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O tempora, o mores!

Ein sicheres Gespür für hässliche Inneneinrichtung: »Goliath96«, ein Mutter-und-Sohn-Filmdrama

  • Oliver Schott
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Probleme des Kleinfamilienlebens, sie sind nur zu vertraut. Da gehen Mama, Papa und Sohnemann gemeinsam an den Nordseestrand, um Drachen steigen zu lassen, und mir nichts, dir nichts läuft der Papa weg, nach links aus dem Bildrand, und ward fortan nicht mehr gesehen. So beginnt Marcus Richardts Regiedebüt »Goliath96«. Wer kennt nicht jemanden, der jemanden kennt, dem so etwas passiert ist?

Der Sohn, das kann man verstehen, hat daran schwer zu knabbern. Er weigert sich, mit seiner Mutter zu reden, und schließt sich in sein Zimmer ein. Für zwei Jahre. Das tut er allerdings erst viel, viel später, als er schon Student ist. Einen konkreteren Anlass dafür, als dass er sich von der Mutter diffus unverstanden und vom Leben überfordert fühlt, scheint es nicht zu geben.

Wozu auch, der Vater hat ja auch keinen Anlass gebraucht. Mama - was soll sie auch anderes tun? - befüllt brav das Gefrierfach mit Tiefkühlpizza und redet ab und zu durch die geschlossene Tür mit dem beharrlich schweigenden Junior. Am Schluss sagt sie: »Ich geh jetzt schlafen, kannst rauskommen.« Klar, sie will verständnisvoll sein, den Sohn nicht auch noch verlieren wie ihren Mann. Den Leuten erzählt sie, der Filius studiere in Texas. Wer würde in ihrer Lage nicht ebenso handeln?

Es sind lebensnahe, psychologisch ausgefuchste Geschichten wie diese, erzählt mit großer Betroffenheit und in Szene gesetzt mit einem sicheren Gespür für die hässlichste denkbare Inneneinrichtung, für die wir den deutschen Film lieben. Selbstverständlich darf dabei die Anbindung an ein hochaktuelles Problem nicht fehlen. Im vorliegenden Fall geht es (irgendwie) um die Verkümmerung der Zwischenmenschlichkeit in Zeiten digitaler Kommunikation. Denn was treibt der junge Mann in seinem Zimmer tagein, tagaus? Na klar, er sitzt am Computer, spielt Ballerspiele und treibt sich in einem Online-Forum für - Achtung! - Drachenbau herum. Schließlich ist Papa ja beim Drachensteigenlassen abgehauen.

Es zeichnet den Film aus, dass er sich nicht von banalen Fragen ablenken lässt wie etwa der, wie man eine Leidenschaft für so ein ja doch eher dem Outdoor-Bereich zuzuordnendes Hobby pflegt, während man jahrelang die Wohnung nicht verlässt. Stattdessen konzentriert sich das Drehbuch aufs Wesentliche, also dieses ominöse Internet, das unser Leben so sehr verändert, wie man immer liest.

Und das geht so: Die Mutter, darauf erpicht, nach zwei Jahren mal wieder etwas von ihrem Sohn zu hören, findet heraus, dass er als »Goliath96« im Drachenbauforum aktiv ist. (Gewitzt! Tatsächlich heißt der Sohn nämlich David.) Also erstellt sie einen Account als - na logisch! - »Cinderella97« und meldet sich bei ihm mit dummen Fragen zum Drachenbau.

Da nimmt die Natur ihren Lauf: Kaum angeschrieben von einem Account mit weiblichem Namen, aber ohne Foto oder irgendeinen sonstigen Inhalt, räumt Sohnemann sein Zimmer auf, rasiert seinen Fusselbart ab und macht Liegestütze. Was man halt so tut, wenn man verliebt ist. Man sieht, der Film ist ganz nah am Puls der Zeit, sozusagen die deutsche Antwort auf »E-m@il für Dich« (USA 1998), nur halt mit Ödipuskomplex.

Wie lässt sich dieses Kuddelmuddel wohl auflösen? Werden Mutter und Sohn am Ende zusammenfinden, das Inzesttabu in den Wind schlagen und gemeinsam in den digitalen Sonnenuntergang fahren? Nein, natürlich nicht.

Der Film weiß mit seinem Thema so wenig anzufangen wie mit seinen Figuren, die sich eigentlich nur dadurch auszeichnen, dass sie ohne jede Motivation handeln und zur Verständigung unfähig sind. So versandet der Plot in einem unentschlossenen Ende, das so hohl und belanglos ist wie der ganze Film.

»Goliath96«, Deutschland 2018. Regie: Marcus Richardt; Drehbuch: Marcus Richardt und Thomas Grabowsky; DarstellerInnen: Katja Riemann, Elisa Schott, Nils Rovira-Munoz, Jasmin Tabatabai. 109 Min.

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