Lasst uns Lohndrücker boykottieren

Elmar Wigand über den Rückgang der Tarifbindung und die Folgen für die arbeitende Klasse

  • Elmar Wigand
  • Lesedauer: 3 Min.

Wenn im April die Tulpen blühen, bereiten Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Sozialisten ihre Reden zum Ersten Mai vor. Ich werde in Hamburg-Harburg reden. Auch 2019 ist da ein Zwiespalt: Einerseits geht es langsam - mitunter auch galoppierend - bergab, andererseits muss zum 1. Mai die Seele massiert, der Mut gestärkt und der Kampfgeist geweckt werden.

Eine zentrale Frage für Gewerkschaften ist die Durchsetzung von Tarifverträgen. Die Fakten sind bereits oberflächlich alarmierend, bei kritischer Betrachtung aber dramatisch. Seit 1992 fliehen Unternehmer aus der Tarifbindung. Von 1996 bis 2017 ereignete sich ein schleichender Erdrutsch. In Westdeutschland von 70 auf 49 Prozent, in Ostdeutschland von 56 auf 34 Prozent. Das ergeben jährliche Befragungen von rund 15 000 Betrieben durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Eine starke Tarif-Bastion ist der öffentliche Dienst - selbst in den gewerkschaftsfeindlichen USA. Denn Kommunen, Universitäten, der Staat können öffentlich unter Druck gesetzt werden. Die Finanzierung ihrer Betriebe läuft über Haushalte, die am Ende von Parlamenten verabschiedet werden. Dagegen liegt Tarifbindung in der Privatwirtschaft im Westen bei nur 43 Prozent und im Osten bei 27 Prozent. Hier endet die Analyse des IAB. Doch was ist mit solchen Tarifverträgen, die reine Augenwischerei sind? Tarif ist nicht gleich Tarif. Es gibt miserable Verträge, die staatliche Mindestregeln unterlaufen. Es gibt Tarifverträge, die von gelben Schein-Gewerkschaften wie CGM, AUB, DHV nur zu dem Zweck abgeschlossen wurden, echten Gewerkschaften das Wasser abzugraben. Ferner gibt es Tarifverträge - etwa in der Leiharbeit - die von DGB-Gewerkschaften abgeschlossen wurden, um den Gelben zuvorzukommen.

Wenn wir uns fragen, wie viele Beschäftigte heute noch unter ernst zu nehmende Tarifverträge fallen, dann landen wir in etwa bei dem Prozentsatz, der heute von SPD und LINKEN bei Wahlen realistisch erscheint: Kaum noch 25, wenn es gut läuft 30 Prozent.

Ende Dezember klagte ver.di, dass in Hamburg nur noch 14 Prozent der Einzelhändler tarifgebunden seien. Eine besondere Tragödie spielt sich derzeit bei der Supermarktkette Real ab. Die Metro AG kündigte im Mai 2018 den Tarifvertrag mit ver.di und überführte alle 34 000 Festangestellten in eine neue Real GmbH. Dort galt ein Tarifvertrag zwischen dem Arbeitgeberverband AHD, den die Metro AG selbst gegründet hatte, und der gelben Schein-Gewerkschaft DHV. Durch dieses Tarif-Theater sollten die Lohnkosten um 30 Prozent gesenkt werden. Doch die Rosskur half nichts - sie zerstörte die Kette final. Jetzt will die Metro die Reste verscherbeln und Tausende Arbeitsplätze vernichten.

Die Auswirkungen dieser Kahlschlagspolitik: Auslagerungen, Werkverträge, sachgrundlose Befristungen und Tarifflucht zerstören auf systematische Weise den sozialen Zusammenhalt und damit die Organisierbarkeit. Zynismus, Resignation und Selbsthass der arbeitenden Klasse, auch Wahlerfolge der AfD haben hier ihre materielle Basis.

Was ist die Therapie? Ein allgemeinverbindlicher Branchentarif, wie ver.di ihn inzwischen für den Einzelhandel fordert - also ein gesetzlich auf die gesamte Branche ausgeweiteter Tarifvertrag, der zwischen Tarifpartnern verhandelt wird, die aus eigener Kraft nicht mehr durchsetzungsfähig sind?

Vielleicht liegt die Lösung ganz woanders: Warum setzen wir die Privatwirtschaft nicht unter den selben Druck wie den öffentlichen Dienst? Dort scheint es zu funktionieren. Lasst uns Lohndrücker boykottieren! Überziehen wir sie mit Prozessen und Protesten. Kaufen wir nur noch in Läden und von Produzenten, die Tariflohn zahlen und Betriebsräte haben. Eigentlich sind wir die Mehrheit.

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