Wie lange hält der Selenskyj-Faktor?
Der Wahlsieger der Präsidentschaftswahlen hat weder eine eigene Partei noch ein konkretes Wahlprogramm - aber die Unterstützung eines Oligarchen
Der Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj hat in der Ukraine große Euphorie ausgelöst. Obwohl der Schauspieler konkrete Aussagen zu seinem politischen Programm hartnäckig verweigert, verdankt er seinen Erfolg nicht zuletzt der Tatsache, das politische Schachfeld in Kiew als Neuling betreten zu können. Damit geht die Hoffnung einher, Selenskyj werde die Verhältnisse im Land grundlegend neu gestalten. Übersehen wird dabei freilich, dass die etablierten Strukturen in Politik und Wirtschaft wenig Spielraum für Veränderung ermöglichen.
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 durchlief das Land wechselnde Phasen, in denen die Macht des Präsidenten zugunsten des Parlaments gestärkt oder eingeschränkt wurde. Nach der Flucht von Präsident Wiktor Janukowitsch im Februar 2014 trat wieder die Verfassung aus dem Jahr 2004 in Kraft. Diese stärkt zwar das Parlament, dennoch bleibt der Präsident die wichtigste politische Instanz des Landes. Das Staatsoberhaupt schlägt dem Parlament die Regierung vor und kann den Ministerpräsidenten oder einzelne Minister gegen den Willen der Parlamentsmehrheit entlassen. Darüber hinaus besitzt er einige legislative Kompetenzen.
Im Vergleich zu Russland oder Belarus garantiert die ukrainische Verfassung dem Präsidenten jedoch deutlich weniger Vollmachten. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass die Herrschenden in Moskau und Minsk die nationale Oligarchie in ein gemeinsames Staatsprojekt integrierten. In der Ukraine dagegen konkurrieren rivalisierende Oligarchen um den Zugriff auf die Regierung und die Staatsapparate.
Trotz der Maidan-Proteste 2013 bis 2014 gelang es der Oligarchie, ihre Herrschaft mit der Wahl Petro Poroschenkos zum Präsidenten zu stabilisieren. Die größte Veränderung seit dem Maidan besteht, so die Politikwissenschaftlerin Julija Jurtschenko, in der Machtverschiebung innerhalb des herrschenden Blocks zuungunsten der bis dahin dominanten ostukrainischen Donezker Oligarchen um Rinat Achmetow und Serhij Taruta sowie deren politische Repräsentanten (Präsident Wiktor Janukowitsch und die Partei der Regionen).
Seit dem Beginn des Krieges in der Ostukraine hat sich die Auseinandersetzung unter den Oligarchen um die Aneignung von Profit, Unternehmen und staatliche Geldern (Steuern, Aufträge) weiter verschärft. Derweil erweist sich der Staat immer weniger dazu in der Lage, seinen administrativen und Regierungsfunktionen nachzukommen. Während das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderte Austeritätsprogramm die soziale Lage weiterer Bevölkerungsschichten verschlechtert, wächst die Abhängigkeit des Staates von ausländischen Gläubigern. Dadurch wird die Regierung anfälliger für externe Einmischungen in innenpolitische Prozesse.
Vor diesen Herausforderungen steht Selenskyj bei seinem Amtsantritt, und es bleibt unklar, wie er ihnen begegnen will - und ob er dies überhaupt vorhat. Denn auch er unterhält Beziehungen zu Fraktionen der Oligarchie, etwa Ihor Kolomojskyj. Hinzu kommt, dass Selenskyj keine politische Bewegung vertritt, die durch ein gemeinsames inhaltliches Programm getragen wird. Der Selenskyj-Faktor beruht ausschließlich auf dem Außenseiterimage, das bewusst auf konkrete inhaltliche Forderungen verzichtet. Dadurch wird Selenskyj zur Projektionsfläche enttäuschter Wähler, die vor allem Poroschenko abwählen wollten.
Fest steht, dass sich Selenskyj zur Durchsetzung seines Regierungsprogramms auf parlamentarische Mehrheiten stützen muss. Um die von Poroschenko eingesetzte Regierung oder einzelne Minister zu entlassen, benötigt der neue Präsident die Stimmen von mindestens 226 Abgeordneten. Derzeit hat Selenskyj im Parlament jedoch keine eigene Fraktion und die nächsten Parlamentswahlen sind erst im Oktober.
Vieles deutet darauf hin, dass sich der frisch gekürte Wahlsieger darum bemühen wird, eine Gruppe von eigenen Anhängern im Parlament aufzubauen. Dies ist kein unmögliches Unterfangen, denn Fraktions- und Parteienwechsel der Abgeordneten sind aufgrund der geringen ideologischen Ausprägung der Parteien üblich. Es würde aber zwangsläufig Selenskyjs Abhängigkeit von einflussreichen Financiers erhöhen.
Die fehlenden gewachsenen Parteistrukturen erweisen sich als deutlicher Nachteil, stehen aber in der Tradition des oligarchischen Systems in der Ukraine. Denn auch Vorgänger Petro Poroschenko verfügte zu Beginn seiner Amtszeit über keine eigene Partei. Der »Block Petro Poroschenko« wurde ebenfalls nachträglich zu den Parlamentswahlen aufgebaut und ist in erster Linie eine Mehrheitsbeschafferin für den Präsidenten ohne eigene inhaltliche Basis. Es bleibt somit äußerst fraglich, ob auf die Wahlen wirkliche Veränderungen in der Ukraine folgen oder lediglich erneute Verschiebungen innerhalb des herrschenden Blocks.
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