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»Die Ordnungsparameter …
Kathrin Gerlof versucht, das Retten von genießbaren, aber entsorgten Lebensmitteln systemtheoretisch einzuordnen
… und das Versklavungsprinzip sind wichtige Schlüsselbegriffe der Synergetik.« So steht es in der »Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus«. Mit Versklavungsprinzip ist gemeint, dass durch nur einige wenige Ordnungsparameter das Verhalten einzelner Systemelemente bestimmt wird.
Ein Ordnungsparameter unserer Gesellschaft heißt - ließe sich sagen: Lebensmittel wegschmeißen ist erlaubt, Lebensmittel retten ist verboten. Das klingt ein wenig paradox, aber nur, wenn man vergessen hat, dass seit Descartes die Frage nach dem Verhältnis des Seins der Welt zur Erkenntnis der Welt nicht wirklich beantwortet worden ist. Wir lieben weiterhin geradlinige Kausalität und hassen zirkuläre Erklärungen. Die Dinge müssen einfach sein und bleiben.
Wie kommen hier die Lebensmittel rein? Sie sind nur ein winziges Beispiel für ein Beharrungsvermögen, das uns letztlich - im ganz Großen - als Spezies überflüssig machen könnte.
Gerade wieder und nicht zum ersten Mal ist im Bundestag ein Antrag gestellt worden, das sogenannte Containern (andere nennen es Mülltauchen, aber da besteht Verwechslungsgefahr, denn wer im Meer schnorchelt, tut das inzwischen auch) straffrei zu stellen. Vor zwei Monaten waren zwei Studentinnen wegen Diebstahls schuldig gesprochen worden. Die hatten Weggeworfenes wieder in die Nahrungskette eingefügt, also genießbare Lebensmittel aus den Tonnen eines Supermarktes genommen und: anschließend gegessen. Verdammte Axt, das ist böse.
Die Linksfraktion im Bundestag will, dass angesichts von 18 Millionen Tonnen jährlich weggeworfener Lebensmittel in Deutschland dieses Tun nicht mehr Straftat ist. Die Bundesregierung ist aufgefordert, dafür einen Gesetzentwurf vorzulegen. Jetzt ließe sich sagen, das hätte die Regierung doch schon längst tun können. Aber sie macht es sich nicht leicht mit der Entscheidung, ob ein Verzichtswille des Eigentümers vorliegt, wenn der abends nach einem turbulenten Tag im Supermarkt Lebensmittel in die Tonne schmeißt. Vielleicht will man ja am nächsten Tag aus den Gemüseresten noch etwas basteln, damit ein Happening veranstalten, Tomatenwerfen und so. Er hat also möglicherweise noch gar nicht endgültig auf das Bestimmungsrecht über den Verbleib der weggeworfenen Lebensmittel verzichtet.
Das kann die Studentin nicht wissen, wenn sie sich ihr Abendessen aus dem Container holt. Dann kommt noch Hausfriedensbruch dazu, eine schlimme Sache. Wenn der Container auf befriedetem Besitztum steht zum Beispiel. Widerrechtliches Eindringen also, wenn zum Beispiel ein Zaun überwunden wurde.
Die Autorin dieser Zeilen kennt eine Menge Menschen, die sich fast ausschließlich von Dingen ernähren, die Supermärkte vorher weggeworfen haben. Gut ernähren, wie sie weiß, ist sie doch selbst hin und wieder Nutznießerin der dem Kreislauf wieder zugefügten essbaren Dinge.
Jetzt kann man der Bundesregierung wahrscheinlich nicht mit der Chaostheorie kommen, überhaupt wird Systemtheorie bei ihren Überlegungen eher keine Rolle spielen. Aber vielleicht hilft ihr die Erkenntnis weiter, dass Systeme ihre Kohärenz am besten in einem dynamischen Zustand zwischen Ordnung und Chaos aufrechterhalten. Das dritte Axiom der Chaostheorie besagt, dass in chaotischen Systemen nicht einfach Zufall produziert wird, sondern sich Muster und Ordnungen bilden können, wenn sie sich selbst überlassen sind.
Oh je, werden jetzt viele denken. Warum sollte unsere Regierung die mülltauchenden Menschen sich selbst überlassen, wo es doch so schöne Paragrafen im Strafgesetzbuch gibt, mit deren Hilfe aus diesen Chaoten Kriminelle gemacht werden können? Das ist eine berechtigte Frage.
Regierungen denken ja auch nicht komplex. Andernfalls ließe sich sagen, dass die Komplexitätsforschung nahelegt, dass selbstorganisierte, komplexe Systeme ihre Innovationsfähigkeit, Kreativität und Anpassungsfähigkeit daraus ziehen, dass sie am Rande des Chaos operieren. Dann doch lieber das Strafgesetzbuch, oder?
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