Mehr als Utopie

Kevin Kühnerts Aussagen erzeugen schrille Reaktionen, weil es eine Verbindung zur Tagespolitik gibt: die Enteignungskampagne in Berlin

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 3 Min.

Schon vor fast 130 Jahren gab sich die deutsche Sozialdemokratie ein Minimal- und ein Maximalprogramm. Ersteres beinhaltete tagespolitische Sozialreformen und demokratische Forderungen, zweiteres den Sozialismus als Fernziel. Dass zwischen beidem bald kaum mehr Verbindung bestand, kritisierte später beispielsweise Rosa Luxemburg. Heute spielen Sozialreformen in der Tagespolitik der SPD schon längst keine Rolle mehr, und so mancher Seeheimer möchte auch jedes laute Nachdenken über mögliche Fernziele aus der Partei verbannen. Wenn es hingegen nach dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Ralf Stegner geht, soll man schon noch über den Sozialismus reden dürfen. Zumindest als Juso-Vorsitzender. Und ausdrücklich nur, wenn dies klar erkennbar als Utopie gekennzeichnet ist, die, so erklärte es Stegner im ZDF-Morgenmagazin, mit der Tagespolitik rein gar nichts zu tun habe.

So sehr sich Stegner und andere SPD-Spitzenpolitiker aber bemühen, jede Verbindung zwischen dem Heute und einem möglichen Morgen, über das Kühnert im Interview mit der »Zeit« sprach, zu bestreiten, so wenig wird bislang diese Minimal-Maximal-Trennung bei der öffentlichen Rezeption der Gedanken des Juso-Vorsitzenden übernommen.

Das liegt zum einen daran, dass er - durchaus sehr geschickt und klug - erklärt, was das eine mit dem anderen zu tun hat, indem er beispielsweise »millionenfach niedrige Löhne« in den Zusammenhang mit Profitstreben stellt, so zu Kapitalbesitz und darüber zu Kollektivierungen und demokratischer Kontrolle der Betriebe, zum Beispiel BMW, kommt.

Und doch hätte dieses Interview, wäre es vor ein paar Jahren gegeben worden, auch einfach als Träumerei eines jungen Radikalen verbucht werden und weitgehend unbeachtet bleiben können. Dass es nun hingegen eine wilde Debatte über Verstaatlichung, Enteignung (auch wenn Kühnert von Kollektivierung sprach) und gar »Sozialismus« gibt, hat etwas mit einer sehr realen Enteignungsbewegung zu tun: der Kampagne von Mietern in Berlin, die die Enteignung von großen Wohnungskonzernen anstrebt, um damit etwas gegen die explodierenden Mieten in der Hauptstadt zu unternehmen. Durch die Existenz dieser Bewegung lassen sich die Ausführungen Kühnerts nicht, wie Stegner es versuchte, so ohne Weiteres in den Bereich des Utopischen verbannen. Im Gegenteil: Da in Berlin Enteignungen von Wohnungskonzernen ganz ernsthaft zur Debatte stehen, hat das Kühnert-Interview eben doch etwas mit »der Tagespolitik« zu tun. »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum (...) überführt werden«, heißt es im Artikel 15 des Grundgesetzes, den die Mieterbewegung in Berlin angewandt wissen will.

Was mit Immobilienbesitz geht, ist, dort steht es schwarz auf weiß, also auch mit Produktionsmitteln möglich - und dann fängt der Juso-Vorsitzende an, dies ernsthaft ins Gespräch zu bringen als Alternative zum real existierenden Neoliberalismus. »Heute reden alle über Enteignung. Wir waren die Ersten«, stellte die Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« lakonisch fest, als der Sturm der Empörung oder, je nachdem, der Begeisterung über Kühnert durch die Bundesrepublik zu fegen begann. Und es stimmt: Nur im Zusammenspiel mit der Kraft, die die Berliner Mieterbewegung ausstrahlt, konnte dessen Interview die erste »Sozialismus-Debatte« in Deutschland seit sehr langer Zeit anstoßen.

Vielleicht geht es bei einigen der hysterischen und bisweilen lächerlichen Reaktionen auf Kühnert, die ihn schon »BMW zerschlagen« und nordkoreanische Verhältnisse heraufziehen sehen, nun gerade darum, durch völlige Überspitzung Unverständnis bei jenen Menschen zu erzeugen, die außerhalb der linken Blase stehen - in der Hoffnung, dass so die sehr konkrete Massenunterstützung für Enteignungen in Berlin wieder schrumpfen möge. Dies kann passieren. Ebenso ist aber möglich, dass, im Gegenteil, von der Debatte eine Erweiterung des Vorstellbaren bleibt.

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