»Das American Empire expandiert«

Rätselraten um Al Qaida und die Zukunft des »Krieges gegen den Terror«

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Hydra wurde der Kopf abgeschlagen, der Afghanistan-Krieg ist beendet, der Kampf des Guten gegen das Böse geht weiter. Diesen Eindruck vermitteln US-Medienberichte und Äußerungen aus dem Weißen Haus und Ministerien.
Charakteristisch für das nachlassende Interesse am Afghanistan-Krieg dürfte der Schwenk der »New York Times« sein, die als wichtigste USA-Zeitung gilt. Schon am Jahresende stellte sie ihre tägliche 14-Seiten-Sonderbeilage zu Terror und Krieg ein. Symbolisch für die Hinwendung der Medien und des Weißen Hauses zur Innenpolitik steht denn auch ihre Titelseite vom Dienstag: ein farbiges Großporträt des Brezelopfers Bush mit blauem Fleck, neue Enthüllungen über den Enron-Skandal, fünf Berichte über Innenpolitisches, ein Beitrag zu Pakistan, ein anderer zum Westjordanland. Afghanistan wird kein einziges Wort gewidmet. Die massive Bombardierung von Zawar Kili, einem mutmaßlichen Al-Qaida-Lager, in den vergangenen elf Tagen wird dagegen knapp auf den hinteren Seiten erwähnt. »Es ist Zeit, anderswo hinzuschauen«, erklärte Admiral John Stufflebeem vom USA-Generalstab Journalisten am Montag. Pentagon-Beamte sagten, die USA würden die Präsenz ihrer Bodentruppen in Afghanistan so schnell wie möglich reduzieren. Da die USA dort eine »langfristige Anwesenheit« ausschließen wollten, würden sie die mutmaßlichen Al-Qaida- und Taleban-Gefangenen - von bislang 414 ist die Rede - nicht in afghanischen Lagern unterbringen, sondern nach Guantanamo in Kuba ausfliegen, erläuterte Admiral Craig Quigley vom US-Central-Command. Pentagon-Sprecher kündigten an, dass die seit dem 11. September üblichen »Antiterror«-Aufklärungsflüge über New York, Washington und 30 weiteren Städten wahrscheinlich reduziert würden. Auch die Frage nach dem Aufenthaltsort Osama bin Ladens und des Taleban-Führers Mullah Omar scheint sekundär geworden zu sein. Vor kurzem gab das Weiße Haus zu Protokoll, US-Army und CIA würden »nicht deren Schatten nachjagen«. Die USA-Geheimdienste konnten bisher erst den Tod zweier von zehn namentlich bekannten Al-Qaida-Führern bestätigen. »Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass bin Laden und seine Führungskader am Leben und in der Lage sind, große Terroranschläge auszuführen - einschließlich jener Männer, die der Ausbildung und der Finanzierung der Entführer vom 11. September verdächtigt werden«, warnte die »Washington Post«. Der stellvertretende nationale Sicherheitsberater Stephen Hadley gab zu, die USA wüssten, dass sie nichts wissen. »Wir wissen nicht, wie viel sie in petto haben«, sagte er gegenüber der Zeitung, »und wir sind besorgt, dass weitere Operationen vorbereitet und finanziert sind und die Attentäter schon feststehen.« Für Siegeserklärungen sei es zu früh, sagte Michelle Flournoy vom Center for Strategic and International Studies in Washington. »Das Netzwerk funktioniert perfekt auch ohne den einen Hydrakopf, den wir abgeschlagen haben.« Al Qaida habe eine klassische dezentralisierte Zellenstruktur und operiere weltweit. Bei ihrem Rätselraten um Al Qaida zitieren USA-Terrorismus-Experten Einschätzungen des pakistanischen Geheimdienstes, wonach in den vergangenen zehn Jahren rund 20000 Individuen durch Pakistan in afghanische Trainingslager gereist seien, 5000 davon hätten ihre Ausbildung beendet und auf bin Laden einen Treueeid geschworen. Selbst wenn dieser und die Al-Qaida-Führung in Afghanistan umgekommen sein sollten, behaupten USA-Regierungsbeamte, existiere außerhalb Afghanistans längst eine »Schattenführung«. Der Löwenanteil an »Initiative, Planung, Mitgliedschaft und Ressourcen dessen, was wir Al Qaida nennen, befindet sich inzwischen außerhalb Afghanistans«, zitierte die »Washington Post« einen USA-Regierungsbeamten, der dann gleich mehrere Dutzend Länder nannte, »von so gesetzlosen Staaten wie Somalia bis hin zu den Philippinen«. Welches Land von den USA als nächstes angegriffen werden soll, darüber wird in den inneren Zirkeln der politischen Elite offenbar debattiert. Jemen und Sudan stellte die Bush-Regierung kürzlich für ihre Kooperation gute Noten aus. Irak müsse angegriffen werden, forderte der demokratische Senator Joseph Lieberman. Sorgen mache sich die Bush-Regierung um Somalia, glaubte der »Christian Science Monitor«. Insgesamt zögen die meisten Regierungen weltweit auf Druck der USA die Antiterror-Schraube an, hat die Zeitung beobachtet. Und: Statt eines größeren Feldzugs, etwa gegen den Irak, würden die USA den Druck auf andere Staaten verstärken. So oder so, meinte im »International Herald Tribune« jedenfalls Willima Pfaff: »Das American Empire expandiert.«

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