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Soziale Rechte ins Grundgesetz!
Ein soziales Grundgesetz ist keine linke Schwärmerei, sondern das, was wir brauchen, um soziale Sicherheit zu garantieren
Ganze 63 mal ist das Grundgesetz bereits geändert worden – und das ist im Grundsatz auch gut so. Wir entwickeln und verändern uns als Gesellschaft, und damit können sich eben auch die Eckpfeiler unserer Gesellschaft ein wenig verschieben. Doch was wir in den letzten Jahren immer wieder gesehen haben ist, dass diese Verschiebung maßgeblich von rechten und wirtschaftsliberalen Kräften betrieben wurde.
Ein schmerzhafter Einschnitt in unser Wertsystem war der sogenannte Asylkompromiss von 1993, mit dem das Recht auf Asyl fast abgeschafft wurde. Eine Abkehr von den Lehren, die wir aus der kriegerischen Geschichte dieses Landes gezogen haben. Ein anderer Einschnitt in die sozialen Rechte wird gerade von der FDP gefordert: Die Abschaffung des Artikels 15, der Vergesellschaftung unter bestimmten Bedingungen ermöglicht. Das hätte nicht nur praktische, legale Folgen. Es würde auch eine Werteverschiebung stattfinden. Das Recht der Gemeinschaft würde erneut geschwächt und damit die sozialen Rechte von uns allen.
Dem müssen sich alle progressiven Kräfte entgegenstellen, und zwar nicht nur defensiv, sondern aktiv: Soziale Grundrechte sind den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen ebenbürtig. Das Recht, die eigene Meinung frei zu äußern, ist nicht weniger wichtig als das Recht zu lernen, das Recht auf Nahrung oder das Recht auf Wohnen. Nach Artikel 20 des Grundgesetzes ist die Bundesrepublik Deutschland ein »sozialer Bundesstaat«. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes - zu denen übrigens auch zwei kommunistische Abgeordnete der später verbotenen KPD gehörten - betonten ausdrücklich den Grundsatz des »sozialen Rechtsstaates« als unabänderliches Grundprinzip unserer Sozialordnung.
Doch diese implizite Zusicherung sozialer Rechte reicht nicht, vor allem nicht in Zeiten, in denen sie unter starkem Beschuss stehen. Wir sollten eine explizite Garantie der Grundrechte in den Bereichen Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit und Pflege, Wohnen und Bildung in unserer Verfassung festschreiben. Denn manche Eckpfeiler unserer Gesellschaft sind tragende Pfeiler, die wir nicht verschieben dürfen.
So besteht ein unauflösbarer Zusammenhang zwischen unserer demokratischen Ordnung und dem Sozialstaatsgebot, wie ihn das Grundgesetz vorsieht. Denn Grundrechte, sind Rechte, die sich niemand verdienen muss, die nicht aberkannt werden können. Sie versprechen ein Leben in Würde für alle Menschen in ihrem Geltungsbereich.
Das Bundesverfassungsgericht hat es am 18. Juli 2012 mit bemerkenswerter Klarheit formuliert: »Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht.
Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.« Die obersten deutschen Richter legten damit erneut fest, dass bestimmte Rechte und Ansprüche unteilbar sind: »Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«
Und genau da hakt es in diesem Land immer wieder. Ich meine, dass die bestehenden Grundsicherungssysteme gegen das Gebot unserer Sozialordnung verstoßen. Noch immer wird rund acht Prozent der erwerbsfähigen Grundsicherungsbeziehenden ihr äußerst knappes Minimum zum Leben zusätzlich durch Sanktionen beschnitten. Noch immer wird das regierungsoffizielle Existenzminimum systematisch kleingerechnet, und noch immer sind die gewährten Kosten für die Wohnung viel zu gering. Das führt nicht nur dazu, das bis zu 56 Prozent der Anspruchsberechtigten die notwendigen Sozialleistungen nicht erreichen, sondern hat auch zum Ergebnis, dass vielen ausländischen Staatsangehörigen ihr Recht auf das materielle Minimum und ausreichende soziale Teilhabe verwehrt wird.
Es reicht in der Praxis nicht aus, wenn das Bundesverfassungsgericht die sozialen Grundrechte verfügt. Nein, sie müssen vom Gesetzgeber ermöglicht werden – und sie sollten nicht zum Gegenstand parteipolitischer Spielchen werden. Ich plädiere für eine ernsthafte Debatte darüber, wie wir die sozialen Grundrechte in das Grundgesetz aufnehmen können. Es wäre auch eine Debatte über unsere Gesellschaft selbst – darüber, welche Eckpfeiler unsere Gesellschaft tragen.
Unserem Land stünde es gut zu Gesicht, im 70. Jahr des Grundgesetzes über soziale Grundrechte auf der Höhe der »Entwicklung der Produktivkräfte« zu diskutieren, wie Karl Marx es gesagt hätte. Hier geht es nicht um linke Schwärmereien, sondern tatsächlich um den sozialen Kitt unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Die Herausforderungen der Globalisierung, des Klimawandels und der Digitalisierung verändern unser Leben. Wir brauchen also eine neue Sicherheitsgarantie, die uns Grenzkontrollen und Überwachungskameras niemals geben können: soziale Sicherheit.
Die muss selbstverständlich auch für die osteuropäischen Arbeitsmigranten gelten, die in deutschen Schlachthöfen bis zur völligen körperlichen Auszehrung und psychischen Erschöpfung schuften – ohne Arbeitsschutz und Mindestlohn.
Auch die jüngsten Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt rufen geradezu nach der Umsetzung des Grundrechts auf eine menschenwürdige und diskriminierungsfrei zugängliche Wohnung und eine einkommensgerechte Miete. Wenn der Markt sich nicht selbst reguliert, sollte dem staatlicherseits nachgeholfen werden.
Die Wiedervereinigung erfolgte 1990 als Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach dem damaligen Artikel 23. Auch mit diesem Jahrestag im Kopf und den vielen Erfahrungen, die wir individuell und als Gesellschaft seitdem gesammelt haben, ist eine Debatte über eine grundlegende Erweiterung des Grundgesetzes um die sozialen Rechte notwendig.
Es ist an der Zeit, dass die LINKE sich nicht nur des parteipolitisch verwaisten liberalen Erbes unserer Republik annimmt, sondern als soziale Grundgesetzpartei für eine Gesellschaft kämpft, in der die Ziele von Freiheit und Gleichheit nicht den Zwängen der ökonomischen Verhältnisse untergeordnet werden. Wenn also der Markt weiterhin das Leben der Mehrheit in unserem Land definiert, dann sollte eine Mehrheit sich die Macht über den Markt zurückholen.
Katja Kipping ist Bundestagsabgeordnete und Ko-Vorsitzende der Linkspartei.
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