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Keine Empathie für die Opfer
Jürgen Todenhöfer entlarvt das Sinken der medialen Hemmschwellen in punkto Krieg
Zu den wenigen Konservativen, die bezüglich der Gegnerschaft zu Angriffskriegen auch heute noch strikt humanistische Ansichten vertreten, gehört Jürgen Todenhöfer. Das Vorgaukeln von Demokratie- und Menschenrechtsexport erklärt er für skandalöse »Heuchelei«. Kein Politiker habe ihm im Vieraugengespräch erklären können, weshalb sich Deutschland am Afghanistan-Krieg beteilige. Keinem sei es »um die Rechte afghanischer Schulmädchen« gegangen, »von denen sie in der Öffentlichkeit so oft sprachen«. Ihre »Kriegslügen« hätten sie längst vergessen, es interessiere sie auch heute nicht, dass zwei Drittel der afghanischen Mädchen laut UNICEF und Human Rights Watch nach wie vor nicht zur Schule gehen. Und obwohl das Scheitern aller humanistischer Vorhaben in diesem Krieg allgemein bekannt ist, beschließt der Bundestag mit überwältigender Mehrheit der Stimmen – ausgenommen die Stimmen der Linkspartei – weiterhin die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan.
In Bezug auf Stellvertreterkriege, die die interpretativen Fähigkeiten besonders stark herausfordern, geht Todenhöfer auch über Positionen eines Teils des linken Spektrums hinaus, das oft zwischen Islam und Islamismus nicht zu unterscheiden weiß und an das Märchen glaubt, islamistische Fundamentalisten könnten, unterstützt vom Westen, der Demokratie zum Durchbruch verhelfen. Er unterscheidet klar zwischen vom Westen bzw. seinen Verbündeten angegriffenen Muslimen einerseits und Islamisten andererseits, die entweder vom Westen instrumentalisiert oder auf eigene Rechnung vornehmlich muslimische Staaten angreifen, die sich auf den Weg in eine laizistische Moderne begeben haben – wie Irak und Syrien.
Als Reporter in den Kriegs- und Krisengebieten des Mittleren und Nahen Ostens vereinigt Todenhöfer außerordentlichen Wagemut und Ausdauer. Prozesse, die ihm um die Authentizität seiner Berichte – so seiner Reise zum so genannten Islamischen Staat – aufgezwungen wurden, gewann er. Das Ziel seiner Bücher ist die Wiederbelebung der vielen Menschen abhanden gekommenen Empathie für die Millionen Kriegsopfer, die der »Krieg gegen den Terror« gekostet hat; eine Aufgabe, der unsere Medien bei weitem nicht im erforderlichen Maß nachkommen. Im Vietnam-Krieg gelangten noch zahlreiche Reportagen, Film- und Fotodokumente an die Öffentlichkeit, die die menschenverachtenden Kriegshandlungen bewiesen.
Als Todenhöfer in einer Talkshow Fotos von Kindern zeigte, die beim deutschen Bombenangriff auf Kundus starben, wurde er »niedergebrüllt«: Der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel und der »Spiegel«-Journalist Matthias Matussek waren empört, dass er ihnen »die Realität eines Krieges« vor Augen führen wollte, den sie für richtig hielten. Mittlerweile sei das Zeigen von Kriegsopfern immer schwieriger geworden. Facebook überdeckt solche Fotos auch auf Todenhöfers Seite. Auf seinen Protest hin wurde das mit »Jugendschutz« begründet, »in der Tat ein starkes Argument. Aber wäre es dann nicht auch sinnvoll, Kriegsspielzeug oder gewaltverherrlichende Computerspiele für Kinder zu verbieten?« Jugendschutz sei nicht der wahre Grund. » Soll unsere Bevölkerung nur die Opfer westlicher Kriege nicht mehr sehen? Wenn Putin oder Assad Zivilisten töten, flimmern die Opferbilder doch auch über unsere Bildschirme!«
Der angebliche Krieg gegen den Terror wurde selbst zu einem terroristischen Krieg. Bei der Vorbereitung der Rückeroberung Mossuls durch Einheiten der irakischen Armee starben durch US-amerikanische Bombardements 20 000 unschuldige Zivilisten. Todenhöfer fragt: »Würde der Westen, wenn es in den bayrischen Alpen Terroristen gäbe, München bombardieren lassen? Würden wir in München jemals Bomben und Raketen einsetzen, um ausländische Terroristen zu bekämpfen? Natürlich nicht! Jeder, der das täte, wäre in unseren Augen ein Irrer, ein Kriegsverbrecher. Man muss Menschen schon sehr verachten, wenn man Bomben auf ihre Häupter kippt, um sie vom Terrorismus zu befreien.«
Aber anstelle die Millionen Opfer im Nahen und Mittleren Osten in den Fokus zu stellen, schüren die meisten Medien eine grotesk disproportionale Angst vor islamistischem Terrorismus im Westen. Todenhöfer plädiert für eine unaufgeregtere Diskussion und weniger mediale Sensationsberichte zu Anschlägen von Islamisten, für die es »eine herbe Niederlage« wäre, »wenn über sie wie über gewöhnliche Mörder berichtet würde«.
Neben dem Motiv des Demokratieexports hantieren Politik und Medien noch immer mit dem alten Paradigma der Dämonisierung der Staatsoberhäupter, deren Land gerade der Krieg erklärt wird, obwohl diese meist nicht zu Schaden kommen, immer aber eine ungeheuerliche Zahl von Zivilisten, die mit den vorgegebenen Kriegsgründen gar nichts zu tun haben. Und selbst wenn »Diktatoren« eliminiert wurden, wie im Fall Saddam Husseins oder Muammar Gaddafis, konnten die Feldzüge nie die von Politik und Medien erhofften Ergebnisse bringen. Im Gegenteil: Sie erzeugten Hass auf den Westen und auch immer wieder neue Terroristen, die sich – vornehmlich im eigenen Kulturkreis – gegen vermeintlich verwestliche Lebensformen aggressiv in Stellung bringen.
Todenhöfers Buch dokumentiert nicht nur seine erschütternden Eindrücke in Irak, im Gaza-Streifen, Afghanistan, Jemen, Syrien und bei den aus Myanmar vertriebenen Rohingyas. Deren Perspektivlosigkeit wird von westlichen Medien nur selten aufgegriffen – wahrscheinlich, weil das von ihnen verlassene Gebiet weder wichtige Ressourcen hat noch von strategischem Interesse ist.
Im Buch angedruckt ist das Faksimile eines im Dezember 2015 gemachten Vorschlags des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad für einen »Neubeginn in Syrien«, den Todenhöfer der Bundeskanzlerin mit der Bitte übergeben sollte, ihn den kriegführenden westlichen Staaten, insbesondere den USA, als Verhandlungsangebot zu unterbreiten. Assad erklärte sich nicht nur zu einem sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen mit ausnahmslos allen Oppositionsgruppen bereit, sondern stellte auch in Aussicht, auf sein Präsidentenamt zu verzichten, sofern das vom syrischen Volk so entschieden würde: »Die friedliche Zukunft Syriens und das Überleben des Landes ist wichtiger als die Zukunft jedweden Politikers. Das gilt auch für mich.« Abgesehen davon, dass es nicht gelungen ist, diesem Angebot Assads eine breite Medienwirkung zu verschaffen, konnte Todenhöfer letztlich nur erreichen, dass Merkels Sicherheitsberater einmal mit dem syrischen Außenminister telefonierte. Die Kanzlerin selber verweigerte sich einem Gespräch mit Assad.
undeskanzler Willy Brandts Neue Ostpolitik wäre mit einer solchen Einstellung undenkbar.
Todenhöfer hat in Washington mehrfach Admiral Dennis Blair getroffen, den ehemaligen Chefkoordinator der 16 US-Geheimdienste unter Barack Obama, und ihm 2010 ein Angebot des Iran überbracht, das zu den ersten direkten Verhandlungen zwischen beiden Staaten führte, aus denen später das Atomabkommen hervorging. Blair gestand, es sei »unverständlich und unverzeihlich«, dass es für Irak nach Hussein keinerlei Plan gegeben habe. Und in Libyen habe man Gaddafis Armee zwar ausgeschaltet, aber zugelassen, dass sie sich in Fraktionen aufsplitterte. »Diese Fehler seien furchtbar, einfach nur furchtbar«. – Todenhöfer zitiert den französischen Soziologen Le Bon: Der Untergang einer Zivilisation beginne mit dem Tag beginne, »an dem ihre Ideale in der Welt nicht mehr respektiert werden«. Diesem Punkt nähere sich der Westen mehr und mehr an.
Jürgen Todenhöfer: Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten. Unter Mitarbeit von Frederic Todenhöfer. Propyläen, 335 S., geb., 19,99 €.
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