Schlüsselromantik

  • Volker Surmann
  • Lesedauer: 3 Min.

An meiner U-Bahnstation hängt ein Vorhängeschloss. Am Treppengeländer runter zur Bahn. In Rosa. In Herzform. »Daniel und Janina« steht drauf. Normalerweise lassen mich solche öffentlichen Liebesbekundungen kalt. Ich hab keine romantische Ader. Aber Daniel und Janina offensichtlich auch nicht. Das macht mich doch neugierig: Was hat ein Herz verloren am Treppengeländer eines U-Bahn-Aufgangs?

»Romantik aus Hölle« hat ein Kollege diese blechgewordene Form der Zuneigungsbekundung zu Recht mal genannt. Gut, auf sachlogischer Ebene kann ich solche in Metallschrott gravierte Liebessymbolik durchaus nachvollziehen: Man steht mit dem oder der Liebsten auf einer Spreebrücke, auf der sich eben noch Punks mit Gemüse beworfen haben, die Sonne taucht in die Feinstaubglocke über Berlin und hustet ein paar schmutzige Wölkchen ins Rosagrau des Firmaments, auf der Spree glitzern Öllachen wie Regenbögen, am Ufer macht sich eine Ratte freudig quietschend über einen erstickten Fisch her, und gerade tuckert ein Stern-und-Kreis-Boot mit Karaoke-keckernden Kegelklubs aus Kalletal vorbei. Ja, da kann man schon mal romantisch werden und sagen: »Schatz, wir ketten unsere Liebe an diese Brücke und werfen den Schlüssel in die reißenden Fluten der Spree, wo er neben ein paar Fahrädern und einer Wasserleiche verrosten wird wie auch dieses Schloss und unsere Liebe an Land.«

Ja, vorstellbar - aber am Treppengeländer des U-Bahnhofs »Weberwiese«?! Was, um Schrottwichtels Willen, wollten die Verliebten damit sagen? - »Schatz, als Symbol unserer ewigen Liebe werfen wir den Schlüssel zu unseren Herzen in die Pissepfütze unten in der Ecke des U-Bahnaufgangs, aus der ihn niemand je aufheben wollen wird. Unsere Liebe wird währen, bis dass der nächste Reinigungstrupp aus unterbezahlten Migranten sie wegkärchert ...«?

Janina und Daniel! Hand aufs rosa Blechherz: Was ging da ab? Seid ihr euch hier das erste Mal begegnet? Hier, wo neben dem Aufgang Radfahrer und Fußgängerin regelmäßig ineinanderbashen? Ging Janina über dieses Geländer zum Treppenboden und schaute beim blutigen Erwachen ihrem Traummann, dem Lieferando-Radler Daniel, ins behelmt-belämmerte Gesicht? Liebe auf den ersten Crash, besiegelt mit einer zerdetschten Pizza Salto mortale? Kam es hier zu eurem ersten Kuss, nachts, nach der letzten U5? Und der Schließer von der BVG sang dazu: »Weil wir euch lieben. Dit ick nich lache. Hört uff rumzuknutschn und macht ma Platz, sonst krieg ick dit Tor nich zu«? Habt ihr hier gar den ersten Beischlaf vollzogen? Nachdem ihr rotzevoll und zugedröhnt vom Berghain zur Karl-Marx-Allee getorkelt seid, einen Vollsuffquickie auf der U-Bahn-Treppe? »An diesem Geländer habe ich mich festgehalten, als ich mich das letztes Mal übergeben habe, und du, mein Schatz, hast mir die Haare gehalten. Und wenn ich mich schon an nix erinnere, dann soll wenigstens dieses Herz dran erinnern«?

All das verrät uns Janinas und Daniels Herz - nicht. So werde ich mir weiter, bei jedem Gang zur U-Bahn, neue Geschichten ersinnen, bis irgendwann ein Schrottsammler aus Biesdorf mit der Flex anrückt. In meiner Fantasie wird er Amor heißen. Romantik kann so schön sein in Berlin.

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