Mut für ein alternatives politisches Projekt

Der linke Abgeordnete Marcel Freixo über den Kulturkampf des ultrarechten Präsidenten Bolsonaro und notwendige Antworten

  • Frank Müller
  • Lesedauer: 3 Min.

In Brasilien werden am 14. Juni mit hoher Wahrscheinlichkeit Millionen von Menschen gegen die Politik der Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro demonstrieren. Warum?

Die Großdemos richten sich gegen die aufklärungsfeindliche Politik des Präsidenten. Er hat Bildung und Forschung als seine Feinde deklariert, den Bildungshaushalt gekürzt. Damit haben Bolsonaro und sein Bildungsminister Abraham Weintraub einen historischen Konsens zwischen rechten und linken Regierungen gebrochen: In die Bildung muss mehr, nicht weniger investiert werden. Die Regierung hat gezündelt und verliert nun die Kontrolle über die Flammen.

Marcelo Freixo

Marcelo Freixo ist Bundesparlamentsabgeordneter für die oppositionelle Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) seit den vergangenen Wahlen im Jahr 2018. Über die Politik von Brasiliens ultrarechtem Präsidenten Jair Bolsonaro und den anstehenden Generalstreik sprach mit ihm für »nd« Frank Müller.

Foto: AFP/Mauro Pimentel

Bolsonaros Umfragewerte sind zuletzt abgestürzt. Einer der Gründe dafür ist sein Vorschlag für die Reform der Sozialvorsorge. Was ist falsch an ihr?

Die Regierung will durch die Reform sparen. Das Problem: Die Ersparnisse sollen zu über 70 Prozent auf Kosten der Arbeiter des untersten Einkommensniveaus gehen. Zudem sollen künftig nur die, die mindestens 20 Jahre in die Sozialvorsorge gezahlt haben, davon profitieren. Da ein Großteil der Brasilianer zumindest zeitweise im informellen Sektor arbeitet, schließt die Reform noch mehr Geringverdienende aus.

Nun ist man im Umgang mit der politischen Opposition in Brasilien nicht zimperlich. Auch Sie standen auf einer Todesliste parastaatlicher Milizen und mussten das Land verlassen.

Das war 2011, kurz nachdem wir die Prozesse gegen Angehörige von Killerkommandos und der Mafia in Rio de Janeiro im Gefolge des parlamentarischen Ausschusses führten. Als Abgeordneter ist es meine Pflicht, gegen den Verfall der brasilianischen Demokratie zu kämpfen, das heißt gegen die Vereinigung von Politik und Milizen. Es ist einfach meine Aufgabe als öffentliche Person, die zum demokratischen Staat und den Menschenrechten steht.

Waren es auch Milizen, die Ihre Parteikollegin Marielle Franco vor über einem Jahr in Rio de Janeiro ermordeten?

Marielles brutale Exekution ist ein politisches Verbrechen. Das Motiv ist nicht geklärt. Klar ist, es war kein Überfall, kein Querschläger, kein Mord aus Leidenschaft. Und das ist fundamental - wir müssen herausfinden, welche politische Gruppierung den Tötungsauftrag gab, und deren Motiv. Sonst lassen wir zu, dass andere Autoritäten, Abgeordnete, Richter, Staatsanwälte oder Journalisten exekutiert werden.

Milizen nehmen also Einfluss auf die Politik - wie genau?

Milizen üben in den Peripherien wirtschaftliche Kontrolle aus, schüchtern die Bevölkerung ein, zwingen sie eine Gebühr für den Wachschutz im Viertel zu bezahlen. Ihre Geschäftszweige sind vielfältig. Jüngst wurde öffentlich, dass sie auch den Bausektor dominieren. Ihre territoriale Macht nutzen sie, um die Wahlen zu beeinflussen, was die Kandidat*innen in ihrem Wahlkampf zu nutzen wissen. Diese verbünden sich mit den Milizen im Austausch für deren Unterstützung im Wahlkampf. Darum sind die Milizen eine reale Gefahr für die Demokratie.

Sehen Sie an dieser bewaffneten Einflussnahme auf demokratische Prozesse ein Anzeichen für die Rückkehr zur Diktatur?

Nein, das nicht. Aber die Kriminalisierung offener Debatten und freien Ideenaustauschs sind Angriffe auf die Errungenschaften der Postdiktatur in Brasilien. Bolsonaro führt einen Kulturkampf gegen alle, die die autoritäre und regressive, ultraliberale Politik der Regierung kritisieren. Die Opposition muss den Mut haben ein alternatives politisches Projekt zu entwickeln.

Worin besteht das?

Die Linke setzte in der Vergangenheit immer auf die Arbeit von Basisorganisationen, Dialog und Solidarität. Neu sind die Herausforderungen. Zum Beispiel müssen wir die evangelikalen Kirchen stärker in den politischen Dialog einbeziehen. Vor allem aber muss die Linke eine starke und vereinigte Opposition gegen den Demokratieverfall darstellen. Wir haben eine enorme Verantwortung im Parlament. Und die teilen wir heute mit Millionen auf den Straßen.

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