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»Die Köpfe wechseln, die Missstände bleiben«
Will die SPD überleben, muss sie Basisdemokratie wagen, meint Lino Leudesdorff
Hat Sie der Rücktritt von Andrea Nahles überrascht?
Nein. Ich habe im Herbst vorausgesagt, dass wir die Europawahl verlieren werden und Nahles aus diesem Grund ihr Amt verlieren wird. Ich war nie ein Fan von ihr, aber für die fortschreitende Erosion der SPD ist sie natürlich nicht allein verantwortlich. Grund dafür ist ein jahrelanges kollektives Versagen der Parteiführung. Parteichefs sind schon oft Bauernopfer gewesen, um Konsequenzen für die anderen Vorstandsmitglieder oder die Große Koalition zu minimieren.
Lino Leudesdorff ist stellvertretender Bundesvorsitzender des Forums Demokratische Linke in der SPD (DL21). Der Politikwissenschaftler ist Mitinhaber einer Personalberatungs- und Vermittlungsagentur. Über die Perspektiven der nach den miserablen Ergebnissen der Wahlen der letzten beiden Jahre schwer angeschlagenen Partei sprach mit ihm Dieter Hintermeier.
Zuerst wollte Andrea Nahles eine Kampfabstimmung um den Fraktionsvorsitz, dann zog sie sich plötzlich aus allen Ämtern und der Politik zurück. Wie ist das zu erklären?
Sie wollte Ihre Gegner stellen und damit ihr politisches Überleben sichern. Als Sie merkte, dass der konservative Flügel der Partei mit seinem Umsturzplänen Erfolg haben könnte, hat sie kapituliert.
Was sagt der Rücktritt über den Zustand der SPD aus?
Die Köpfe wechseln, die Missstände bleiben.
Wird Ihre Partei wieder auf die Beine kommen?
Das entscheidet sich in den nächsten Monaten. Bringt sie den Mut auf, einen grundlegend neuen Kurs einzuschlagen? Es bräuchte jedenfalls einen Vorstand, der einen Umschwung glaubwürdig repräsentiert. Der bereit ist, die Partei neu aufzustellen und sich traut, die Basis ebenso wie ganz normale Bürger mitdiskutieren und entscheiden zu lassen. Gelingt das, sehe ich noch Chancen.
Was ist aus Ihrer Sicht alles falsch gelaufen, dass die SPD in einem so desolaten Zustand ist?
Die SPD ist im Bund inhaltlich und personell ausgebrannt. Der erneute Gang in die Große Koalition wirkte da wie ein Brandbeschleuniger.
Sollte die Partei trotzdem an der Großen Koalition festhalten?
Nein. Egal, ob sie durch einen SPD-Parteitag oder durch eine Wahl beendet wird: Für die Sozialdemokratie beginnt dann die mühsame Aufbauarbeit.
Greift die SPD die falschen Themen auf?
Ja, denn sie hat kein Zukunftskonzept, keine Vision, die begeistert. Wir stellen das zweite Mal in Folge die Umweltministerin und verfehlen die Klimaziele. Wer entscheidet denn in einer Demokratie, wie wir leben wollen? Der Konzern der Dieselfahrzeuge baut, oder wir, die verschmutzte Luft einatmen müssen? Wir reden vor jeder Wahl von sozialer Gerechtigkeit, aber die Ungleichheit, besonders bei Vermögen wird nicht einmal angetastet. Es geht darum, wie wir die Gesellschaft zusammenhalten. Wirtschaftlich, sozial aber auch kulturell.
Was sind denn nun Ihre Forderungen an die Partei?
Ich wünsche mir Unterscheidbarkeit und Klarheit. Ich bin wie viele andere der SPD beigetreten, weil wir die Welt und unser Land verändern wollen. Die skandinavischen Sozialdemokraten stehen für einen starken Staat mit hohem Investment in Bildung und Infrastruktur. Es gibt ein starkes soziales Netz, das dich auffängt und wieder aufrichtet, statt dich zu bestrafen. Und die österreichischen Sozialdemokraten haben in ihrer Regierungszeit gezeigt, dass es eine gute Rente für alle geben kann, wenn jeder einzahlt. Die spanischen und portugiesischen Sozialdemokraten haben Bündnissen mit den Konservativen die kalte Schulter gezeigt und dadurch an Profil gewonnen. Hier kann man sich ein Beispiel nehmen.
Die Konservativen in Ihrer Partei wollen, dass die SPD weiter in die »Mitte« rückt. Ist dort der richtige Platz?
Ich denke, die Wähler haben ausreichend kundgetan, was sie von konservativen Sozialdemokraten wie Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz oder Martin Schulz halten. Nach 20 Jahren Mitte-Kurs könnten wir ja mal was Neues ausprobieren. Anderswo hat das geholfen.
Was heißt das konkret?
Die Wähler fordern »klare Kante« und Unterscheidbarkeit. Das geht am besten mit einem klaren linken Profil für mehr Sozialstaat. Wer sein Profil schärft, kann nicht jedermann gefallen. Das müssen wir aber auch gar nicht. Es geht darum, das Leben vieler Menschen zu verbessern und den Stillstand der Ära Merkel zu überwinden. Meine Partei ist manchmal so furchtbar altbacken und reagiert nur auf Trends, statt sie auszulösen. Soziale Netzwerke sind beispielsweise nicht bloß Bedrohung, sondern die einmalige Chance, sich direkt am politischen Partizipationsprozess zu beteiligen.
Olaf Scholz sagte kürzlich, die SPD habe gute Chancen, bald stärkste Partei zu werden.
Der Mann schafft es auch ohne Gesangseinlage, dass ich mich schämen muss. Für so etwas werde ich am Wahlkampfstand ausgelacht. Um uns das Vertrauen der Wähler zu verdienen, müssen wir einiges tun.
Und Ihr Genosse Karl Lauterbach meint, die SPD verkaufe sich nur schlecht.
Er sagte aber auch, die GroKo sei unbeliebt. Wie etwas verkaufen, was keiner will? Das beste Marketing ersetzt nicht das Produkt. Die Legende, wir müssten nur aufhören zu diskutieren, das Marketing verbessern und ganz viele Daumen hoch auf Beiträge des Parteivorstandes geben, ist Humbug. Das Gegenteil ist richtig: Wir müssen die Diskussion befeuern, alle Parteimitglieder, ja die ganze Gesellschaft, in die politische Willensbildung involvieren.
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