Gefahr in Verzug

Der Verdächtige für den Lübcke-Mord pflegte offenbar Kontakte in das rechtsterroristische »Combat 18«-Netzwerk

  • Hans-Gerd Öfinger und Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

Ende März dieses Jahres treffen sich rund 200 Neonazis auf einem Waldgrundstück des sächsischen Dorfes Mücka. Es ist eine konspirative Zusammenkunft – diskutiert wird die Frage, ob eine neue Gruppe in das rechtsterroristische »Combat 18«-Netzwerk aufgenommen werden soll. Die 18 steht für die Initialen von Adolf Hitler. Die Vereinigung vertritt das Konzept des »führungslosen Widerstandes« – Depots anlegen und Terroranschläge begehen in kleinen autonomen Zellen. Man versteht sich auch als bewaffneter Arm der extrem rechten Organisation »Blood and Honour« (Blut und Ehre). Diese hatte den NSU maßgeblich unterstützt und wurde im Jahr 2000 verboten. Nicht jedoch »Combat 18«. 2012 konnte sich die deutsche Sektion des Netzwerks neu gründen.

Polizisten sind an diesem Tag in Mücka nur wenige präsent. Es gibt keine Personen- und Fahrzeugkontrollen. Offenbar lässt man die Nazis gewähren. Vielleicht auf Ansage des Verfassungsschutzes, munkeln Kenner der Szene. Einige Journalisten dokumentieren das Treffen heimlich. Sie finden heraus: Unter den Teilnehmern befindet sich der in Kassel lebende Stanley R. Laut dem antifaschistischen Recherchekollektiv »Exif« handelt es sich bei ihm um »eine Art Europachef« im internationalen »Combat18«-Netzwerk. Ende 2017 wurden zwölf Neonazis festgenommen, als sie von einem Schießtraining in Tschechien zurück nach Deutschland kamen. Die Tasche mit der Munition im Wagen konnte Stanley R. zugeordnet werden.

Neben R. steht in Mücka ein Mann mit dunklem T-Shirt und weißem Baseballcap. Ein Foto von ihm wird nach einem Hinweis von »Exif« dem ARD-Recherchemagazin Panorama übergeben. Ein Gutachter bestätigt in einer anthropologisch-biometrischen Untersuchung: Bei dem Mann mit weißem Cap handelt es sich mit höchster Wahrscheinlichkeit um Stephan E.
Der Name ging in den vergangenen Tagen durch die Presse. Der 45-jährige Stephan E. ist dringend tatverdächtig für den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Der CDU-Politiker wurde Anfang Juni mit einem Kopfschuss auf seiner Terrasse regelrecht hingerichtet. Am Tatort fanden die Ermittler die DNA von E. Die Polizei nahm ihn als Hauptverdächtigen vergangenes Wochenende fest. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft.

Mit jedem Tag kommen neue Informationen über Stephan E. ans Tageslicht. Bisher ist klar: Der Verdächtige hat eine lange Karriere als Neonazi, Bombenbastler und verurteilter Gewalttäter hinter sich. Mit der hessischen Neonaziszene ist er offenbar gut vernetzt, seine Beziehungen reichen auch in militante Strukturen.

Die Radikalisierung begann schon früh. Als gerade einmal 20-Jähriger griff E. 1993 mit einer Rohrbombe eine Asylbewerberunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenrodt an. Nur dank glücklicher Umstände konnten einige der Anwohner eine Explosion verhindern. Es folgte eine Haftstrafe ohne Bewährung. Der Verdächtige ging dann 2002 für die hessische NPD auf Wahlkampftour. In Kassel trafen nach Fotos von »Exif« bereits hier aufeinander: Stephan E., der zuvor erwähnte Stanley R., sowie die beiden engen Kontakte von E., Mike S. und Michel F. Der Neonazi Mike S. gilt als Führungsfigur der Kasseler Szene, Michel F. den »Combat18«-Strukturen zugehörig. 2009 war Stephan E. an einem Überfall auf die Dortmunder DGB-Maikundgebung beteiligt. Dafür verurteilte ihn ein Gericht zu sieben Monaten Haft auf Bewährung.

Schon 2015 stößt die hessische Linksfraktion in dem maßgeblich von ihr angestoßenen NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags auf den Namen des Verdächtigen. Stephan E. war als besonders gewaltbereit aufgefallen. In einem Beweisantrag wollte die Fraktion mehr über ihn erfahren und Akten einsehen. Sie biss jedoch auf Granit, stieß auf geschwärzte und geschredderte Dokumente – und bis heute auf einen Schleier der Geheimhaltung. Mehrere Parteien, allen voran die Linkspartei, fordern nun die Freigabe der für 120 Jahre als Verschlusssache weggesperrten NSU-Akten.

Die Bezüge des Verdächtigen zum bis heute nicht aufgeklärten Komplex sind dabei vorhanden. Neben der Verbindung von »Blood and Honour« zum »NSU« sticht hier vor allem die zwielichtige Rolle des Verfassungsschutzes heraus. In Kassel trug sich im Frühjahr 2006 die wohl auffälligste Tat der Terrorgruppe zu. Am 6. April wurde der Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat von den Mitgliedern des NSU ermordet. In den Räumen des Cafés saß zur Tatzeit der damalige Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme. Die Ermittler verdächtigten ihn, doch er gab an, nichts mitbekommen zu haben. Jener dubiose Geheimdienst-Mitarbeiter galt in seinem nordhessischen Heimatort als »Kleiner Adolf« und wurde später im Kasseler Regierungspräsidium mit einer Stelle versorgt. Gerade in jener Behörde also, der Lübcke seit 2009 als Leiter vorstand. Noch lange nach dem Mord verdächtigen die Ermittler Yozgats Familie und spähten sie aus.

Klar ist, dass für Stephan E. die hessische Neonaziszene eine zentrale Rolle spielte. Der Großraum Kassel ist seit Jahren Hotspot und Drehscheibe für die regionalen militanten Strukturen, man ist bestens mit den Szenen in Dortmund und Thüringen vernetzt. Und man fühlt sich sicher. Die Mitglieder der Kasseler »Combat 18«-Zelle bildeten gar einen Verein und zahlten auf ein gemeinsames Konto bei der Sparkasse ihre Monatsbeiträge ein. Sie trafen sich offenbar jahrelang in der Gaststätte »Stadt Stockholm«, bis sie von den Betreibern nach langen Auseinandersetzungen hinausgeworfen wurden. Jüngst erklärte die Gastwirtin Claudia Hauck der Lokalpresse, etwa zur Zeit des Mordes an Halit Yozgat habe auch die damals untergetauchte NSU-Terroristin Beate Zschäpe das Lokal besucht.

Andere Kasseler Neonazis blieben jedoch bisher unbehelligt. Das Warten der Behörden könnte mutmaßlichen Mitwissern oder Mittätern die Möglichkeit gegeben haben, Beweise zu vernichten oder unterzutauchen. Am Mittwoch brach in einem Kasseler Mehrfamilienhaus ein Brand aus, die Feuerwehr schloss Brandstiftung nicht aus. In dem Gebäude wohnte Mike S., der Nazi-Freund von Stephan E.

Das Agieren der Behörden wirft erneut zahlreiche grundsätzliche Fragen auf. Auf die Idee, Stephan E. nach dem Lübcke-Mord aufzusuchen, nach einem Alibi für die Mordnacht in Istha zu fragen und sein Kasseler Haus zu durchsuchen, kamen die Behörden ganze zwei Wochen lang nicht. Erst, als eine Kasseler Amtsrichterin grünes Licht gab, wurde er schließlich festgenommen und sein Haus und Arbeitsplatz durchsucht. Nun erfuhr eine staunende Öffentlichkeit, was aufmerksame Antifaschisten von Anfang an vermutet hatten: Der Mord an Walter Lübcke war höchstwahrscheinlich politisch motiviert. Ein Verdacht, der kaum noch auszuschließen ist.

Nach »Spiegel«-Informationen besuchte E. möglicherweise gar 2015 die Bürgerversammlung, auf der Lübcke durch eine Rede Rassisten verärgert hatte. »Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist«, sagte der CDU-Politiker in Reaktion auf rechte Pöbeleien. Derzeit werde noch überprüft, ob E. unter den rund 800 Besuchern gewesen sei, heißt es aus Ermittlerkreisen.

Unter der Regie der Bundesanwaltschaft, die vergangenes Wochenende die Ermittlungen an sich zog, galt zunächst die Vermutung, es handele sich um einen politisch motivierten Einzeltäter. Es gebe »keine Hinweise auf ein rechtsterroristisches Netzwerk«, so Karlsruhe. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang hatten zudem erklärt, dass Stephan E. seit 2009 nicht mehr als Rechtsextremist in Erscheinung getreten sei. In Anbetracht der jüngst veröffentlichten antifaschistischen und journalistischen Recherchen muss von etwas anderem ausgegangen werden.

Zumindest Teile der Politik versuchen zu reagieren. Die Sprecher für antifaschistische Politik der Linksfraktionen in Bund und Ländern forderten am Freitag gemeinsam ein sofortiges und bundesweites Verbot von »Combat 18«. Die zuständigen Behörden müssten sofort aktiv werden – Gefahr sei in Verzug.

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