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Digitalkapital in Siemensstadt
Elektrokonzern will sich von Wissenschaftlern wirtschaftlich befruchten lassen
Die traditionelle Siemensstadt in die Zukunft holen: Dieses Ziel hat sich das namensgebende Unternehmen zusammen mit dem Land Berlin gesetzt. Bis 2030 soll dort, wo Siemens Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Stadtviertel zum Arbeiten, Wohnen und Leben errichtet hat, ein modernes Abbild dieser Blaupause entstehen.
Ein erster Schritt auf diesem Weg zur »Siemensstadt 2.0« ist das nun vorgestellte »Werner von Siemens Centre for Industry and Science«. Dort sollen Wissenschaft und Wirtschaft miteinander bei der Entwicklung innovativer Technologien kooperieren. »Das Reallabor wird das Herzstück in der Siemensstadt 2.0«, sagt Karina Rigby, Projektleiterin des Innovationscampus. Im Reallabor sollen zusammen mit der Wissenschaft neue Entwicklungen in den Themenfeldern Energie, intelligente Infrastruktur und Mobilität der Zukunft entstehen.
- Die Geschichte der Siemensstadt begann im Jahre 1897, als die Siemens & Halske AG ein knapp 21 Hektar großes Areal auf dem damals so genannten Hühner-Werder erwarb. Aus der fast unbewohnten und sumpfigen Naturlandschaft, die zunächst »Kolonie Nonnendamm« genannt wurde, wuchs ein Fabrik- und Wohnstadtteil mit in der Spitze 90 000 Beschäftigten. Seit 1914 trägt er offiziell den Namen Siemensstadt.
- Von 1929 bis 1980 verband die Siemensbahn, eine fast fünf Kilometer lange S-Bahnstrecke, die der Konzern einst selbst erbaut hatte, das Areal über den Bahnhof Jungfernheide mit dem Rest der Stadt. Im Zuge des Reichsbahnerstreiks in West-Berlin folgte die Stilllegung. Wegen der parallel neu gebauten U-Bahnlinie U7 schien die nun wieder vorgesehene Wiederinbetriebnahme lange utopisch.
- In den vergangenen Jahrzehnten hat der Siemens-Konzern viele Tochterunternehmen ausgegliedert und verkauft. Derzeit arbeiten noch rund 11 500 sogenannte Siemensianer dort. Der Konzern will 600 Millionen Euro in die Siemensstadt 2.0 investieren. nic
Partner sind dabei neben der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) und dem Fraunhofer Institut auch die Technische Universität (TU) Berlin. Die Universität wolle sich als Teil des Innovationscampus bei der Entwicklung neuartiger Materialien und Fertigungsverfahren wie dem 3D-Druck einbringen, wie Präsident Christian Thomson sagt: »Wir als Technische Universität bringen unsere Forschungsexpertise und unsere lebendige Start-up-Kultur ein, um gemeinsam mit den Partnern Lösungen für aktuelle Themen zu finden.« Diese Zusammenarbeit wird auch vom Land Berlin finanziell unterstützt.
Drei neue Professuren sollen an der TU Berlin entstehen, die sich in Kooperation mit Siemens an der Erforschung digitaler Produktionstechnologien beteiligen. Insgesamt 1,5 Millionen Euro jährlich will die Wissenschafts- und Forschungsverwaltung dafür bereitstellen. »Auf diese Weise stärken wir Berlin als innovativen Industriestandort und leisten einen wichtigen Beitrag für die wirtschaftliche Entwicklung unserer Stadt«, sagt der Regierende Bürgermeister und Wissenschaftssenator, Michael Müller (SPD), zu der Aufstockung. Laut Müller verfüge Berlin mit einer Dichte von 100 Wissenschaftlern auf dem Gebiet des digitalen Wandels über »eine einmalige Dichte an Einrichtungen und Expertise auf dem Gebiet der Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz«.
Die Einrichtung der neuen Professuren sind Teil der im Oktober 2018 zwischen dem Land Berlin und Siemens geschlossenen nicht-öffentlichen Absichtserklärung, die »nd« vorliegt. In dieser hat sich Berlin auch bereit erklärt, die ehemalige Siemensbahn wieder in Betrieb zu nehmen und eine Anbindung des Stadtteils über den Hauptbahnhof bis zum Flughafen BER innerhalb von 40 Minuten zu ermöglichen. Am Donnerstag will der Regierende Bürgermeister die Finanzierungsvereinbarung für die S-Bahntrasse unterzeichnen. Ziel der Einbindung in das Berliner Verkehrsnetz ist es, »maßgeblich zur Attraktivität des Innovations-Campus und von Siemensstadt beizutragen«, wie es in der 2018 unterzeichneten Absichtserklärung heißt. Denn in Siemensstadt soll nicht nur ein neuer Innovationsmotor der Wirtschaft entstehen, sondern auch ein Stadtviertel zum Wohnen und Leben gebaut werden. »Die Entstehung eines Kiezes ist wichtig, denn uns geht es um die Verortung hier in Siemensstadt«, sagt Projektleiterin Rigby. Auf 200 000 Quadratmetern sollen deshalb auch Wohnungen in Siemensstadt entstehen. Zusätzlich wolle man unter anderem durch Schulen und Flächen für den Einzelhandel sowie die Gastronomie zur Belebung des Stadtviertels beitragen, wie es in der Absichtserklärung heißt.
Mit der schleichenden Deindustrialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Gegend arm geworden. Entsprechend groß ist die Sorge bei den Anwohnern, dass die Mieten rasant steigen und sie schließlich verdrängt werden. Katalin Gennburg, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der LINKEN im Abgeordnetenhaus, fordert daher, dass die rings um das Entwicklungsgebiet liegenden Kieze Milieuschutz bekommen.
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