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»Die Lehrer zeigen uns den Weg, Genossen«
In Chile streiken nach den Lehrkräften auch die Bergarbeiter für bessere Arbeitsbedingungen
Chancengerechtigkeit wird in Chiles Bildungssystem klein geschrieben. Auch die zwei Amtszeiten der sozialdemokratischen Präsidentin Michele Bachelet (2006-2010 und 2014- 2018) mit ihren Reformen im Schulwesen und Hochschulsystem haben das neoliberale Modell nur kosmetisch verändert.
Seit dem 3. Juni sind 90 000 Lehrkräfte von Grundschule und Sekundarstufe in Chile im Ausstand. Sie haben sich dabei mit den Erzieher*innen und Aushilfskräften an staatlichen Bildungseinrichtungen vereint. Rund eine Million Schülerinnen und Schüler werden seitdem nicht unterrichtet. Die Lehrkräfte fordern ein Ende der prekären Arbeitsbedingungen in Kindergärten und in Schulen sowie mehr Investitionen von der Regierung in das staatliche Bildungssystem und einen Stopp der neoliberalen Bildungsagenda der jetzigen Regierung von Präsident Sebastian Piñera, der aus dem rechten Lager stammt.
Die Proteste richten sich außerdem gegen die Ankündigung der Regierung, die Fächer Geschichte, Kunst und Sport von Pflichtfächern in Wahlfächer umzuwandeln.
»Die Mobilisierung basiert auf Forderungen, die größtenteils nicht viel Verwaltungs- oder Haushaltsanstrengungen bedürfen«, so Benjamín Infante, streikender Geschichtslehrer der Sekundarstufe in der Stadt Coyhaique, im Süden Chiles im Gespräch mit »neues deutschland«. »Unser Kampf kann nur geführt werden, wenn wir als gesamte Klasse gegen diese Politiken der Armut kämpfen«, so eine protestierende Studentin am 20. Juni bei einer Großkundgebung der streikenden Lehrkräfte in der nördlichen Küstenstadt Antofagasta.
In Aufruhr ist nicht nur der Bildungssektor. Auch die Minenarbeiter sind im Streik. In der Stadt Calama, mitten in der Atacama Wüste, ergriff ein Bergarbeiter das Wort bei einer Versammlung der Bergarbeiterinnen und Bergarbeiter des Kupfertagebaus in Chuquicamata. Er schilderte, was zwei Abende zuvor oben in Chuqui, wie das Bergwerk lokal genannt wird, passiert war: »Wir waren dort oben und haben die Türen 2 und 4 blockiert, um den Zugang zu den Kupferkonzentratoren zu verhindern. Wir waren 300, davon 50 Frauen, vor allem aus dem Krankenhaus in Chuqui, die tapfer ausgehalten haben. Wir wurden dort brutal von den Pacos (Polizisten, An. d. Red.) angegriffen. Zwölf Genossen wurden verhaftet.«
Ein Frau meldet sich zu Wort »Entschuldigung, dass ich das sage, Genossen, aber die 50 Frauen, die da oben gekämpft haben und unsere Sache verteidigt haben, die haben hundert Mal mehr die Hosen an als die, die nicht oben gekämpft haben.« Tosender Beifall.
In Chuqicamata befindet sich eine der größten Kupferminen der Welt. Seit 1971 gehört diese dem Staatsunternehmen Codelco. Über 5000 Arbeiterinnen und Arbeiter sind direkt bei Codelco beschäftigt. »Der Bergbau ist sehr hart. Aber hier in der Region gibt es kaum Arbeit. Wenn du nicht in die Mine gehst, hast du nichts. Wenn du rein gehst lässt du dein Leben dort«, so Lester Calderón, Vorsitzender der Gewerkschaft ORICA Chile und nationaler Leiter des Verbandes der Arbeiter in Industrie und Metallindustrie.
3200 Arbeiterinnen und Arbeiter sind seit dem 14. Juni in Chuquicamata im Ausstand. »Die Arbeiter fordern, dass das Bergbauunternehmen auf ihre Forderungen reagiert, insbesondere in Bezug auf Ausstiegspläne, Gesundheitsgarantien für Arbeiter, die das Bergwerk verlassen, eine stärkere Beteiligung am Prozess der Erzverarbeitung sowie Verbesserungen im Krankenhaus und die Gleichstellung von neuen und alten Arbeitern. Dies ist relevant, da der Übergang zu einer unterirdischen Grube, welche bevorsteht, die Entlassung von mehr als 1700 Arbeitern bedeuten wird. Deshalb sind die Austrittspläne und die Krankenversicherung zentrale Forderungen, da viele Arbeiter aufgrund der Arbeitsbedingungen im Bergbau diesen mit chronischen Krankheiten verlassen«, so der Gewerkschafter. Bei der Versammlung ist die Stimmung kämpferisch: »Die Lehrer zeigen uns den Weg, Genossen. Lang lebe der Kampf der Lehrer!« Wieder tosender Beifall.
Der Streik der Lehrkräfte, sowie der Streik der Bergbauarbeiterinnen und -arbeiter in Chuquicamata geht weiter. Studierende und Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe schließen sich bereits in mehreren Städten den breiten Mobilisierungen an. Es wird ein heißer Herbst in Chile.
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