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China im Punktewahn

In der Volksrepublik gehen staatliche und privatwirtschaftliche Überwachung bald Hand in Hand, meint Katharina Nocun

  • Katharina Nocun
  • Lesedauer: 3 Min.

Der 22. Jahrestag der Übergabe Hongkongs an China wurde vonseiten der Behörden mit dem Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken zelebriert. Bewaffnete Beamte stehen an diesem Tag 16-Jährigen gegenüber. Die Jugendlichen protestieren gegen ein Auslieferungsabkommen mit Festlandchina, das de facto bedeuten würde, dass Presse- und Demonstrationsfreiheit in Hongkong nur noch auf dem Papier gelten. Die langfristige Perspektive der Menschen in Hongkong ist aber noch viel bedrohlicher. Eine Angleichung der Verhältnisse an Festlandchina würde bedeuten, dass man sich einer neuen Form der Diktatur unterwerfen müsste, welche sich neue Möglichkeiten der Kontrolle und Überwachung voll zunutze macht.

Ab 2020 soll in China ein Sozialkreditsystem eingeführt werden. Das bedeutet: Jeder Bürger bekommt ein Punktekonto zugeteilt. Positive Handlungen werden mit Punkten belohnt, Vergehen werden hingegen mit Punkteabzug abgestraft. Neu an dem System ist, dass hierbei staatliche und private Datensammlungen zusammenfließen. Die verspätete Ratenzahlung bei einem Kredit wird ebenso erfasst wie das Überqueren einer roten Ampel. Wer sich vorbildlich verhält, kommt in den Genuss von Vorzügen. In einigen Regionen zählen dazu etwa Extraleistungen der Krankenkasse oder vergünstigte Kredite. Wer als »Vertrauensbrecher« identifiziert wird, hat hingegen mit deutlichen Einschränkungen zu kämpfen.

Derzeit werden zahlreiche unterschiedliche Systeme im Land getestet. Während in einigen Städten lediglich rudimentäre Datensätze zusammengetragen werden, werden andernorts »Blockwarte« eingestellt, die in der Nachbarschaft patrouillieren und notieren, wer die Straße fegt oder aus welcher Wohnung verdächtiger Lärm tönt. Die Vergehen und Leistungen werden an einem öffentlichen Aushang bekannt gemacht. In der Provinz Hubei werden auch Vergehen von Studierenden wie etwa Schwänzen oder Schummeln berücksichtigt. Andernorts wird bereits daran gearbeitet, das Erfassen bestimmter Vergehen durch Videoüberwachungssysteme mit Gesichtserkennung zu automatisieren. Perfide an dem System ist, dass die ganze Familie mit in Sippenhaft genommen werden kann. In einer Versuchsregion ist der Punktestand der Eltern entscheidend dafür, ob die Kinder die Wunschschule besuchen dürfen.

Ein solches System, in dem Datenströme aus allen Lebensbereichen zusammenlaufen, ist gerade für undemokratische Regime hochattraktiv. Wer Kritik an der Regierung übt, riskiert plötzlich eine Strafe, die alle Lebensbereiche erfasst. Das gilt nicht nur für handfeste Regimekritiker, sondern auch für Bürger, die hin und wieder ihrem Unmut über Korruption, Wohlstandsverteilung und Umweltschäden Luft machen wollen. 2017 standen bereits 7,49 Millionen Menschen auf der öffentlich einsehbaren »schwarzen Liste« für »Vertrauensbrecher«. Wer als solcher identifiziert wird, kann in einigen Regionen schon heute kein Flugzeug und auch keinen Schnellzug mehr buchen. In einem riesigen Land wie China kann so etwas je nach Job das berufliche Aus bedeuten. Bürger haben außerdem kaum Möglichkeiten sich gegen eine falsche Beschuldigung der Behörden zur Wehr zu setzen. Gewaltenteilung ist in einem Land ein Fremdwort. Unabhängige Justiz gilt als westliche Propaganda. Wer in China angeklagt wird, wird in 99 Prozent der Fälle verurteilt.

Nicht nur Individuen, sondern auch Unternehmen werden in dem Sozialkreditsystem erfasst. Korruption, Umweltsünden und schlechte Arbeitsbedingungen sollen laut Regierung damit besser abgestraft werden können. Unternehmen mit schlechtem Punktestand werden mit Einschränkungen belegt, darunter auch das Verbot an staatlichen Ausschreibungen teilnehmen zu können. Ob die Korruption dadurch wirklich eingedämmt werden kann, wenn diejenigen, die die Punkte vergeben, nach wie vor anfällig für Korruption sind, ist mehr als fraglich. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass neue Formen der Bevorzugung entstehen.

Wer heute noch glaubt, die ökonomische Öffnung Chinas würde automatisch zu mehr demokratischen Freiheiten führen, muss blind sein. Denn was in China gerade passiert, zeigt vielmehr, dass wir es mit einem neuen Typus von Diktatur zu tun bekommen werden. Eine Form der Diktatur, in der staatliche und privatwirtschaftliche Überwachung Hand in Hand gehen. Die Jugendlichen in Hongkong tun recht daran, sich der Annäherung Hongkongs an Festlandchina entgegenzustellen.

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