»Es sieht nach Aufrüstung aus«

Nach dem Aus des INF-Vertrags fordert Christoph von Lieven ein Zusammengehen von Klima- und Friedensbewegung

  • Felix Jaitner
  • Lesedauer: 6 Min.

Herr Von Lieven, am Freitag läuft der INF-Vertrag zwischen Russland und den USA über das Verbot nuklearer Mittelstreckenraketen aus. Was hat er bewirkt?

Bis in die 1980er Jahre bedeutete das gegenseitige Wettrüsten eine massive Bedrohung für Europa, aber auch für die Sowjetunion, weniger für die USA, weil Mittelstreckenraketen die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer begrenzten Reichweite gar nicht erreichen können.

Christoph von Lieven

Christoph von Lieven ist Kampagnenspezialist bei Greenpeace. Seine Themenschwerpunkte sind internationale Handelsverträge, Katastrophenschutz, Nachhaltigkeit und Zukunftssicherung. Mit ihm sprach Felix Jaitner. Foto: privat

Warum wurde der Vertrag dann aufgekündigt?

Seit 2014 gibt es immer wieder gegenseitige Vorwürfe zwischen USA und Russland, denen zufolge beide Seiten Waffensysteme entwickeln, die vertraglich nicht genehmigt sind. Das hat dann dazu geführt, dass es 2017 keine neuen Gespräche gab, sondern US-Präsident Donald Trump - einseitig - den Vertrag aufkündigte.

Von russischer Seite wird immer wieder betont, dass es mit der NATO-Osterweiterung und der Stationierung von Raketensystemen in Osteuropa eine schrittweise erfolgende Einkreisung Russlands gegeben habe, was wiederum in Deutschland und anderen NATO-Staaten verneint wird.

Dass das verneint wird, halte ich für absurd. Es gab eine NATO-Osterweiterung, ehemalige Sowjetrepubliken sind jetzt Mitglied der NATO. Faktisch ist es so, dass im Unterschied zu vor 30 Jahren NATO-Truppen und NATO-Raketen sehr viel näher an Moskau und an den Verwaltungszentren Russlands stationiert sind. Es gab eine massive Abrüstung der Atomwaffen aufseiten der Russen und der USA und es gab auch von den europäischen Staaten großes Interesse, die EU nach Osten zu erweitern.

Für wie berechtigt halten Sie den Vorwurf, die russische Seite habe Raketentest durchgeführt, die gegen den INF-Vertrag verstoßen?

Dies bezüglich sind nie Beweise vorgelegt worden, von keiner Seite. Beide beschuldigten sich gegenseitig. Das Waffenkontrollregime, das mit dem INF-Vertrag etabliert wurde und besagt, dass kurzfristig angekündigte Inspektionen überall im Land stattfinden konnten, ist eingeschlafen. Da hatten beide Seiten aufgrund ihrer strategischen Situation andere Interessen. Die Situation im pazifischen Raum hat sich massiv geändert, nicht nur für Russland, sondern auch für die USA. Vorher war der Pazifik quasi der Hinterhof der USA. Mit dem Erstarken Chinas und Indiens haben wir eine ganze neue Situation.

Was für Schwächen hatte der INF-Vertrag?

Erstens betraf er nur landgestützte, nicht aber seegestützte und luftgestützte Systeme, wo die Entwicklung weitergegangen ist. Zweitens haben inzwischen auch andere Staaten Mittelstreckenraketen, die ja auch atomar bewaffnet werden können, entwickelt. China, Pakistan, Indien, Israel hätten in das Vertragswerk mit einbezogen werden müssen, um die atomare Bedrohungslage zu reduzieren. Dabei war bei den START- und INF-Verhandlungen geplant, weitere Verträge zur Zerstörung nuklearer Gefechtsköpfe zu entwickeln.

Was wäre denn die Grundlage für eine Verlängerung oder eine Neuauflage des INF-Vertrages?

Unserer Meinung nach müsste es erst mal eine grundsätzliche Bereitschaft von allen Seiten dafür geben, die Sicherheitsinteressen des jeweils anderen anzuerkennen und gemeinsame Interessen zu definieren. Das bedeutet: wie sichern wir ein gutes Leben für alle Menschen. Das größte gemeinsame Interesse ist ein möglichst gutes Überleben. Und das können wir nur gemeinsam angehen und gewährleisten. Wenn wir uns immer in die Konkurrenzsituation begeben, dass der eine besser und mehr haben will als der andere, wird das nicht funktionieren.

Was heißt das konkret?

Die großen Herausforderungen, vor denen wir alle stehen, sind durch das Pariser Klimaabkommen und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen definiert. Wenn wir die als Leitfaden für unser Handeln nehmen, würde das bedeuten, keine Ressourcen, kein menschliches Wissen und auch keine finanziellen Mittel, die wir eigentlich brauchen, um diese Welt nachhaltig und fair zu entwickeln, in Rüstungsprojekte zu stecken. Denn Rüstungsgüter produziert man bestenfalls für den Müll, falls sie nicht eingesetzt werden, und schlechtestenfalls vernichten sie uns alle.

Mit Blick auf die Erfahrung um das Atomabkommen mit Iran und dem einseitigen Ausstieg der USA: Wie können andere Atommächte noch dazu motiviert werden, an internationalen Vertragswerken wie einem neuen INF-Vertrag teilzunehmen?

Dafür braucht es einen weltweiten Konsens, auch dahingehend, dass Staaten wieder gemeinsam eingefangen werden, die aus dem Vertrag ausscheren. Es ist ja eine absurde Situation, dass einige wenige Staaten über ein nukleares Abschreckungskalkül verfügen und die Mehrheit nicht. Das schafft maximale Ungleichheit. Wir fordern deshalb die Unterzeichnung und Ratifizierung des Atomwaffenverbotsvertrags durch die Bundesregierung. Es gibt ja diese Initiativen immer wieder - sei es der Strafgerichtshof in Den Haag, der Seegerichtshof oder die - sicherlich auch noch nicht perfekte - Welthandelsorganisation WTO. Diese müssten aber auch von allen anerkannt werden. Dass etwa die USA den Internationalen Strafgerichtshof nicht akzeptieren, darf eigentlich nicht hingenommen werden.

Welche Folgen hat das Aus des INF-Vertrags?

Im Moment sieht es nach weiterer Aufrüstung aus. Das gilt auch für die EU, wo es auch um militärische Unabhängigkeit von den USA geht. In diesem Zusammenhang werden zum Beispiel die Modernisierung und die deutsche Finanzierung der französischen Atomwaffen diskutiert. Das ist natürlich völlig falsch. Ein Außenminister und eine Regierungspartei können nicht auf der einen Seite sagen, wir müssen Atomwaffen abrüsten und auf der anderen Seite die Erneuerung genau dieser Waffen finanzieren oder die Stationierung von modernisierten Atombomben zulassen. Das ist unglaubwürdig. In diesem Zusammenhang wird ja auch wieder die Fähigkeit zu begrenzten Atomschlägen diskutiert. Das ist eine rein destruktive Denke, die geeignet ist, die Welt in Schutt und Asche zu legen, aber nicht sie zu erhalten und zu verbessern.

Die Bundesregierung appelliert an Russland und die USA, Abrüstungsverträge einzuhalten und spielt gleichzeitig eine führende Rolle bei der militärischen Integration der EU.

Die Militarisierung der deutschen Politik hat katastrophale Folgen. Wohin das führt, können wir in den USA und den ungelösten Konflikten im Nahen Osten sehen. Wir müssen - das schlägt auch den Bogen von der Friedens- zur Klima- und zur Umweltbewegung - weg von fossilen Energieträgern. Und die Energieversorgung aus erneuerbaren dezentralisieren. Wenn das jetzt schon so wäre, würde es den Konflikt im Persischen Golf so nicht geben.

Deutschland ist ein gutes Beispiel, dass die Versorgung mit Erneuerbaren in einem hochindustrialisierten Land möglich ist, und ich glaube, wir können auch ein gutes Beispiel dafür geben, wenn wir in Europa abrüsten statt aufzurüsten. Ein Schritt könnte es sein, endlich die nukleare Teilhabe zu beenden, wie es der Bundestag 2010 beschlossen hat. Aber das ist bisher leider nicht umgesetzt worden.

Und was fordert Greenpeace?

Wir arbeiten daran, dass sich das eigentliche Friedensprojekt Europa wieder besinnt. Es braucht eine Bewegung, in der Frieden und Umwelt, also der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, gemeinsam gedacht und gefordert wird. Gerade die »Fridays for Future«-Bewegung ist für mich ein sehr, sehr positiver Ansatz, und die etablierten Parteien haben zu recht Angst davor, dass sie die Jugend verlieren.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.