Gute Brüste, schlechte Brüste

Nadia Shehadeh meint, die Brust darf in der patriarchalen Gesellschaft nur sichtbar werden, wenn sie eine Funktion erfüllt

  • Nadia Shehadeh
  • Lesedauer: 4 Min.

In diesem Jahr scheint die Marke Victoria’s Secret ein ernsthaftes Problem zu haben: Angeblich soll die alljährliche Runway-Show abgeblasen werden. Die Parade von Models in Unterwäsche, die ritualisiert mit so absurden Accessoires wie Engelsflügeln über den Laufsteg flanierten, scheint in die Jahre gekommen zu sein - was nicht weiter wundert, allein wenn man sich einige der Gestalten im Publikum in Erinnerung ruft. Donald Trump war häufiger Stammgast bei den Shows, ebenso Les Wexner, der einst das New Yorker Haus des Investmentbankers Jeffrey Epstein besaß und zusätzlich noch ein ehemaliger Finanzkunde des ausgemachten Sexualverbrechers war. Nach MeToo und Co. scheinen die Shows zu einem merkwürdigen Artefakt verkommen zu sein, zu einer beknackten Parallelwelt eines vor kurzem vergangenen Zeitalters von Nulldiäten, während sich anderswo - vor allem in den sozialen Netzwerken - Diskurse um Body Positivity und Widerstände gegen Photoshop-Airbrush formierten.

Victoria’s Secret ging es wahrscheinlich nie um das Wohlbefinden der Frauen, die sie als Käuferinnen adressierten, sondern eher darum, irgendeine hanebüchene Dessous-Fantasie-Welt zu kreieren, die vor allem Männern gefällt. Spätestens jetzt, wo viele andere Dessousmarken sich an Vielfalt, Body Positivity, Inklusivität und Anti-Photoshop-Ästhetik orientieren, wirkt eine Runway-Karambolage wie die von Victoria’s Secret mit angestrengt lächelnden Models, die sich zuvor wochenlang von Eiswürfeln und Gurkenscheiben ernährt haben, und mächtigen weißen Männern im Publikum wie ein Albtraum zurecht vergangener Zeiten.

Dennoch soll man sich nicht täuschen lassen: Der BH ist und bleibt ein mehr oder weniger vorgeschriebenes Kleidungsstück, gerade in den Industrienationen westlicher Prägung - auch wenn manche Leute gerne anderes behaupten. Dass das so ist, konnte man kürzlich beobachten, als die Kapitänin der »Sea-Watch 3«, die im Mittelmeer auf der Suche nach schiffbrüchigen Geflüchteten ist, in einem schlichten schwarzen Shirt vor einem Gericht erschien und für einen Aufschrei unter Konservativen sorgte, da sie auf einen BH verzichtet hatte. Das Shirt von Carola Rackete war nicht durchsichtig, aber allein die Tatsache, dass ihre Brust unübersehbar nicht in die Form zweier BH-Körbchen gequetscht war, sorgte für Schnappatmung.

Ihre Brust also, eine Brust. Eine von zwei Vorsprüngen, die sich im oberen Bereich des Rumpfes von Primaten befinden. So weit, so langweilig. Manche Personen haben zudem eine Drüse in der Brust, die Milch produziert und absondert, um Säuglinge zu füttern. So weit, so unspektakulär. Aber Menschen wären nicht Menschen, würden sie nicht schon seit Jahrhunderten Bohei um die menschliche Brust machen - und zwar ausnahmslos dann, wenn es um die Brust weiblich gelesener Personen geht. Und ja, ausgerechnet dort, wo man sich auf die Fahne schreibt, seit Jahrhunderten die Gleichberechtigung der Geschlechter voranzutreiben, gibt es immer noch Gezeter, wenn eine Brust nicht den ihr zugedachten Zweck erfüllt.

Brüste in der patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaft dürfen einzig und allein dann sichtbar existieren, wenn sie irgendeine Funktion erfüllen: Das kann Sexualität sein, aber auch Monetarisierung, Werbung, Nahrung (das Stillen von Babys) oder Krankheit (die Erforschung oder Behandlung von Brustkrebs). Vielleicht dürfen Brüste im Zusammenhang mit Freiheit existieren, wenn es zum Beispiel wegen Rackete die tausendste FreeTheNipple-Aktion im Internet gibt. Ansonsten aber gehören Brüste weggesperrt, wenn sie grad keine Aufgabe haben - und zwar in einen BH. Dass das so ist, werden sich nicht Personen mit Brüsten ausgedacht haben.

Die schlechten Brüste sind offenbar vor allem die, die einfach nur da sind, ohne dass sich die Person, zu der sie gehören, irgendwie darum schert. Ohne dass sie irgendwem besonders gut gefallen müssen. Und deswegen sind auch die Brüste von Carole Rackete sofort als schlecht verurteilt worden: Weil sie für die Beobachter am Tag des besagten Gerichtstermins einfach nur als ein Teil von Rackete existierten. Wie das halt so ist mit Körperteilen, die man als Mensch haben kann. Doch den Kopf sollte man deswegen nicht in den Sand stecken: Wenn ein britisches Dessous-Modehaus, das vor einigen Jahren noch als legendär gefeiert wurde, zumindest kurzzeitig in die Knie gezwungen werden konnte, dann gelingt es mit dem BH-Zwang vielleicht auch eines Tages.

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