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Selenskyj darf endlich regieren
Ukrainische Präsidentenpartei will Abgeordnetenimmunität abschaffen
Am Dienstag hat Wolodymyr Selenskyj seine ersten 100 Tage als ukrainischer Präsident absolviert. Doch eigentlich geht es für den 41-jährigen Ex-Komiker erst am Donnerstag richtig los, wenn sich das im Juli gewählte Parlament zum ersten Mal trifft. In der neuen Werchowna Rada hat Selenskyjs Partei »Diener des Volkes« mit 254 Abgeordneten die absolute Mehrheit. Und während der ukrainische Präsident in den vergangenen Monaten viele Vorhaben nicht durchsetzen konnte, weil das alte Parlament seine Initiativen grundsätzlich blockierte, hat er nun freie Fahrt.
Medienberichten zufolge sind zwar zum Beginn der politischen Saison keine der üblichen Showelemente Selenskyjs zu erwarten, dafür aber wird in Kiew spekuliert, dass die Präsidentenfraktion gerne bereits am ersten Tag über 60 bis 70 Gesetzentwürfe abstimmen würde. »Wir wollen von Anfang an große Effizienz zeigen«, sagt Ruslan Stefantschuk, der für das Amt des stellvertretenden Parlamentsvorsitzenden vorgesehen ist. »Diener des Volkes« will über die Aufhebung der strafrechtlichen Immunität der Abgeordneten, ein Dauerthema in der ukrainischen Politik, und über die Reduzierung der Abgeordnetenzahl von 450 auf 300 Personen abstimmen. Denkbar ist auch die Verkündung der vorgezogenen Bürgermeisterwahl in Kiew, denn der Streit zwischen Selenskyj und Amtsinhaber Vitali Klitschko geht weiter.
Mit 254 Abgeordneten - bei der ab 226 Stimmen beginnenden Mehrheit - kann »Diener des Volkes« fast alles durchsetzen, was die Präsidentenfraktion will. Aber eben nicht alles. Für die Abschaffung der Abgeordnetenimmunität wird eine Verfassungsmehrheit von 300 Stimmen gefordert. Deswegen ist es unklar, ob die Partei von Selenskyj ihr Vorhaben auch im neuen Parlament umsetzen kann. Die ukrainischen Medien spekulieren allerdings darüber, dass Ihor Kolomojskyj, der mächtige Oligarch, dem Verbindungen zu Selenskyj nachgesagt werden, aus über 30 in Direktwahlkreisen gewählten unabhängigen Abgeordneten eine eigene Fraktion bildet, die den »Diener des Volkes« unterstützen könnte. Auch die nationalliberale Partei »Stimme« des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk könnte die Initiative mittragen.
Die gesamte Regierung wird am 29. August offenbar noch nicht stehen, das Amt des Ministerpräsidenten scheint aber bereits vergeben. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge soll der 35-jährige stellvertretende Chef des Präsidentenbüros, Olexij Gontscharuk, das neue Kabinett übernehmen. Gontscharuk hat sich im Kampf mit anderen wirtschaftsorientierten Technokraten durchgesetzt und in den vergangenen Wochen Selenskyj stets bei seinen Reisen in die ukrainischen Regionen begleitetet. Bemerkenswert ist, dass Gontscharuk im Wahlkampf noch auf der Seite von Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko stand. Damit ist er aber in der neuen Regierung vermutlich nicht alleine.
Gontscharuk hat im Gegensatz zu einigen anderen Kandidaten weder nennenswertes politisches Gewicht noch verfügt er über große Bekanntheit in Wirtschaftskreisen. Deswegen ist davon auszugehen, dass seine Rolle sich in erster Linie auf die punktgenaue Durchsetzung der politischen Strategie von Selenskyj beschränken wird. Auch im ukrainischen Parlament nutzt der »Diener des Volkes« die eigene Mehrheit, um Schlüsselpositionen zu besetzen. Die Posten des Parlamentsvorsitzenden und seines ersten Stellvertreters werden an die Regierungsfraktion vergeben, die oppositionellen Fraktionen bekommen voraussichtlich nur den Vorsitz in vier Parlamentsausschüssen.
Spannend wird sein, wie lange die Präsidentenfraktion zusammenhält. Angeführt wird sie von Dawid Arachamija, der gemeinsam mit dem ukrainischen Verteidigungsministerium die Anwerbung von freiwilligen Rekruten und Nachschub für die Armee organisierte. Mit Personen wie Bogdan Jaremenko, der designierte Vorsitzende des parlamentarischen Außenausschusses, ist die Fraktion mit vielen Personen mit klarer proukrainischer Haltung besetzt. Gleichzeitig gibt es Abgeordnete wie Maxym Buschanskyj oder Olexander Dubynskij, die sich für direkte Verhandlungen mit den Donbass-Separatisten aussprechen. Wie lange diese unterschiedlichen Standpunkte zusammengehalten werden können, wird sich zeigen.
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