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Termingeschäfte
Boris Johnson wurde in die Schranken gewiesen. Doch die Opposition um Jeremy Corbyn hat keinen Plan für den nächsten Schritt.
Eine der dramatischsten Wochen in der neueren Geschichte der britischen Politik endete mit einer Schlappe für Tory-Premierminister Boris Johnson: Er verlor drei Abstimmungen, die konservative Mehrheit ist dahin, und sein eigener Bruder verließ die Regierung.
Die Brexit-Strategie Johnsons - notfalls ohne Deal mit der Europäischen Union aus derselben auszusteigen - hat damit zunächst einen Rückschlag erlitten. So bleibt weiterhin offen, ob, wie und wann es tatsächlich einen Brexit geben wird. In der oppositionellen Labour-Partei ist eine Debatte um den besten Zeitpunkt für Neuwahlen ausgebrochen. Manche Abgeordnete drängen auf einen möglichst baldigen Termin, andere wollen zuerst ganz sicher gehen, dass der No-Deal-Brexit mit Sicherheit abgewendet ist.
Labour hatte einen Gesetzentwurf eingebracht, der einen chaotischen EU-Austritt am 31. Oktober verhindern sollte. Dieser erhielt am Mittwoch die Zustimmung des Unterhauses. Am folgenden Tag bestätigte das Oberhaus, dass es die Vorlage im Eiltempo durchzubringen plant. Damit sollte das Gesetz Anfang nächster Woche unter Dach und Fach sein - also gerade noch rechtzeitig, bevor das Parlament für fünf Wochen in den von Premierminister Johnson mit Unterstützung der Queen angeordneten Zwangsurlaub geht.
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Johnsons Team hatte eine solche Niederlage wohl in seine Pläne einbezogen; seit Wochen ist klar, dass es die Regierung auf vorgezogene Neuwahlen abgesehen hat. Aber bislang hat sich die Opposition nicht darauf eingelassen. Der Premier kann lediglich eine Neuwahl vorschlagen, die Abgeordneten müssen sie dann mit einer Zweidrittelmehrheit bestätigen.
Normalerweise brennt die Opposition auf Wahlen - aber der Brexit hat Labour vorsichtig gemacht. Eine deutliche Mehrheit aller Abgeordneten des Unterhauses lehnte am Mittwoch Johnsons Forderung ab. Am Freitagmittag einigten sich die Oppositionsparteien darauf, keiner Neuwahl zuzustimmen, die vor November stattfindet.
Dass das Unterhaus bald neu gewählt wird, gilt als sicher. In Erwartung dessen ließen sich in den vergangenen Tagen Tausende Wählerinnen und Wähler registrieren - innerhalb von 48 Stunden waren es mehr als 100 000. Großbritannien hat kein Meldesystem, und so müssen sich Briten beispielsweise nach einem Umzug vor Wahlen neu registrieren lassen.
Zwar hat Johnsons autoritäres Gehabe vielen die Zuversicht genommen, dass sich die Regierung an die politischen Spielregeln in Westminster halten wird. So sagte Schattenfinanzminister John McDonnell, einer der wichtigsten Verbündeten des Labour-Chefs Jeremy Corbyn, der BBC: »Wir können uns derzeit nicht darauf verlassen, dass Boris Johnson sich an eine Verpflichtung hält.« Mit anderen Worten: Der Premierminister hat sich so antidemokratisch aufgeführt, dass nicht einmal ein Gesetzesbeschluss Garantie ist, dass Johnson ihn ausführt.
Dennoch darauf hoffend sucht Labour aus wahltaktischen Gründen nach dem günstigsten Zeitpunkt. Am Mittwoch sagte Corbyn, die Opposition werde für Neuwahlen stimmen, wenn das No-No-Deal-Gesetz beschlossen ist - das heißt, wenn die Queen ihre formelle Zustimmung gegeben hat. Wenn alles nach Zeitplan läuft, wird das voraussichtlich am Montag geschehen. Aber die Fraktionsmitglieder setzten Corbyn unter Druck, sich auch nach dem Gesetzesbeschluss der Forderung nach Neuwahlen zu widersetzen. Der Labour-Chef und sein Schattenkabinett schwenkten auf diese Linie ein. Schattenaußenministerin Emily Thornberry sagte am Freitag der BBC: »Das Problem ist, wenn wir für eine Neuwahl stimmen, dann liegt es an Boris Johnson, der Queen einen Termin für die Neuwahl vorzuschlagen - ungeachtet dessen, was er verspricht.« Der Premierminister könnte also den Termin kurzfristig auf einen Tag vor dem 31. Oktober verschieben.
Deshalb fordern manche Abgeordnete, die Neuwahlen erst im November auszurufen. Das hätte aus Sicht der Opposition den zusätzlichen Vorteil, dass Johnson sein gusseisernes Versprechen, Großbritannien werde am 31. Oktober die EU verlassen, brechen würde - sein wichtigstes Projekt wäre damit im Eimer. Das würde der Opposition enorm helfen: Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ICM hat ergeben, dass die Zustimmung zur Brexit-Partei von Nigel Farage von 9 auf 18 Prozent ansteigen würde, wenn es erst im November Neuwahlen gäbe; der Vorsprung der Tories vor Labour wäre in dem Fall zunichte.
Viele Labour-Politiker wollen zumindest bis zum EU-Gipfel Mitte Oktober warten, bevor sie Neuwahlen zustimmen. Wenn Johnson es bis dann nicht geschafft hat, einen neuen Deal auszuhandeln, dann muss er laut dem nun beschlossenen Gesetz bei der EU um einen Brexit-Aufschub ersuchen. Stimmt die EU dieser Fristverlängerung zu, wäre der No-Deal-Brexit mit Sicherheit ausgeschlossen. Dabei hatte Johnson wiederholt versprochen, auf keinen Fall um eine Verschiebung zu ersuchen. »Ich würde lieber tot in einem Graben liegen«, sagte Johnson zuletzt am Donnerstag. Ihm bliebe also nichts anderes übrig als zurückzutreten. Die Schottische Nationalpartei (SNP), die zweitgrößte Oppositionspartei im Unterhaus, stützt Labours Verzögerungsstrategie. »Wir werden den Zeitpunkt der Neuwahl bestimmen, denn Boris Johnson hat seine Mehrheit im Parlament verloren. Die Oppositionsparteien haben jetzt das Ruder in der Hand«, sagte SNP-Fraktionschef Ian Blackford.
Der Regierung bleiben tatsächlich wenige Möglichkeiten, die Vorgänge im Parlament zu lenken. Eine Option wäre, dass Johnson einen Misstrauensantrag gegen seine eigene Regierung stellt und damit Neuwahlen erzwingt. Das wäre nicht nur ein höchst ungewöhnliches Manöver, es könnte auch völlig daneben gehen: Im Anschluss an ein verlorenes Vertrauensvotum hat die Opposition während zwei Wochen die Möglichkeit, eine Regierung zu stellen, bevor Neuwahlen ausgerufen werden. So könnte Johnson seinem Erzfeind Corbyn dazu verhelfen, sein Nachfolger zu werden.
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