Überlegenheit über das Unbekannte

Der Westen im Blick des Ostens: Selbst kritische Berichte über den kapitalistischen Warenwahnsinn waren in den DDR-Medien problematisch

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 6 Min.

Ende 1986 tat der US-Autogigant General Motors (GM) die Absicht kund, sechs Zweigwerke zu schließen und 30.000 Leute »auf die Straße zu setzen«, wie der Autor dieses Beitrags damals in einem Kommentar in der »Lausitzer Rundschau« schrieb. Die LR war, dies zur Erinnerung, die SED-Zeitung für den Bezirk Cottbus, der später im Land Brandenburg aufging.

Die massenhafte Entlassungsabsicht von GM ordnete der Autor noch in einen Trend ein, laut dem in den USA die Zahl zusammengebrochener Unternehmen in den ersten drei Monaten des Jahres 1986 um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen sei – das reichte dann allemal, um in dem Beitrag die »Profitjagd« anzuprangern, bei der die »Werktätigen auf der Strecke bleiben«, wie auch die kapitalistische Börsenlogik, wegen der zeitgleich der Wert der GM-Aktien »kräftig« anzog.

Ein anderer Text, den der Autor vor mehr als 30 Jahren für die LR-Rubrik »Alltag im Imperialismus« verfasste, trug die Überschrift »Leiharbeiter sind der letzte Dreck«. Anknüpfend an Schilderungen im damaligen Wallraff-Bestseller »Ganz unten« wurde der ziemlich menschenverachtende Umgang mit Leiharbeitsbeschäftigten mit – heute würde man sagen – Migrationshintergrund nochmals scharf verurteilt.

Aus welchen Quellen damals die Angaben für die Texte kamen, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Art und Weise der Kommentierung zeigen aber prototypisch, wie damals in den DDR-Medien wirtschaftliche Vorgänge in der westlichen Welt bewertet und vermittelt wurden – holzschnittartig, ohne konkrete Analyse von Märkten und Trends. Passend herausgegriffene Fakten und Vorgänge mussten herhalten, um die kapitalistischen Verhältnisse in Grund und Boden zu schreiben. Streben nach Profit fungierte als alles erklärende Ursache.

Genaue Studien, die über Art und Weise der Berichterstattung in der DDR über die Wirtschaft der Bundesrepublik Auskunft geben können, gibt es, soweit sich das recherchieren ließ, bisher nicht.

Klar ist aber: Eine tiefergehende Information der DDR-Bevölkerung über die westdeutsche Wirtschaft war nicht vorgesehen und nicht erwünscht. Das Standardwerk für jeden angehenden DDR-Redakteur, das »Wörterbuch der Sozialistischen Journalistik«, hier zitiert nach der 1981er Auflage, sah unter dem Stichwort »Wirtschaftspolitischer Journalismus« nur im zehnten und letzten Punkt so etwas wie »Kapitalismusdarstellung« vor, natürlich entsprechend parteilich formuliert: Es sei ein, ist zu lesen, Beitrag »zur internationalen Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus« zu leisten, »indem die kapitalistischen ökonomischen und sozialen Verhältnisse in ihrem Wesen enthüllt und den sozialistischen gegenübergestellt werden«.

Nun – tatsächlich schrumpften die Möglichkeiten, die »kapitalistischen Verhältnisse« gegenüberstellend zu enthüllen, in der journalistischen Realität recht schnell zusammen, und das nicht einmal deswegen, weil die übergroße Mehrheit der DDR-Wirtschaftsjournalisten diese Verhältnisse niemals vor Ort kennenlernen oder gar recherchieren dufte.

Eine Besonderheit des DDR-Journalismus war bekanntlich, dass er nach außen hin als ein staatstragender und repräsentierender wahrgenommen wurde. Weil nahezu jede bedeutende Zeitung von der SED selbst oder einer Blockpartei dirigiert wurde, galten die Publikationen im Ausland als deren Sprachrohr oder als direktes Instrument in den Händen der Führung der Staatspartei.

Detaillierte Berichte über westdeutsche Unternehmen und ihre Geschäfte? Könnte ja sein, dass man damit dem DDR-Außenhandel – oder den bis zur Wende abgeschotteten DDR-Devisenbeschaffern der »Kommerziellen Koordinierung«, kurz Koko genannt – in die Quere gekommen wäre.

Oder man wäre auf die intern bekannten, offiziell aber verheimlichten Geschäfte gestoßen, bei denen DDR-Betriebe im Rahmen der sogenannten Gestattungsproduktion Produkte herstellten, die billig in den Westen geliefert und dort teuer verkauft wurden oder gar nur in die sogenannten Intershop-Läden gelangten, wo die DDR-Bürger ihre Westmark für eigentliche Ostprodukte ausgaben.

Selbst kritische Berichte über den kapitalistischen Warenwahnsinn waren in den DDR-Medien problematisch – in einem Staat, in dem anerkanntermaßen so etwas wie Mangelwirtschaft herrschte. Wollt ihr bei den Leuten Bedürfnisse wecken, die wir nicht befriedigen können, war da noch eine freundliche Form der Zurückweisung solcher Ideen.
So blieben den DDR-Medien am Ende im Kern immer nur dieselben Themen, die sich für die Darstellung der kapitalistischen Verhältnisse eigneten: die Armut, besonders wenn sie als Betteln sichtbar wurde; die Drogenprobleme, gern mit einer Spritze im Unterarm im Bild; die Arbeitslosigkeit, die zum Glück ja monatlich von der Bundesagentur für Arbeit verkündet wurde; und der unauflösbare, weil ja »antagonistische« Klassen-Widerspruch zwischen Krupp und Krause.

Zu den parteilichen Lieblingsthemen gehörte auch die Obdachlosigkeit im Westen. Auch wenn die DDR-Führung ihr Wohnungsbauprogramm auf Pump und mit dem Verfall der vorhandenen Wohnsubstanz finanzierte – für einen DDR-Bürger war zumindest einsichtig, dass man in seinem Land nicht zwangsweise auf der Strasse leben musste.

In den Niederungen der wirtschaftlichen Realität blieb von der profitablen Kritik am Westen nichts mehr übrig. Da fand eher eine Anbiederung an die »kapitalistischen Verhältnisse« statt. Höhepunkt dessen war die halbjährliche Berichterstattung über die Leipziger Messe und die Besuche der Partei- und Staatsführung an den Messeständen des kapitalistischen Auslands.

Aus heutiger Sicht sind diese Texte traurige Beispiele eines »Journalismus«, der diplomatische Staatsräson, Parteisprech und die wirtschaftliche Interessen von Ost und West zu einem kunstvollen Potpourri verrührte.

Man muss sich dabei aber auch vor Augen halten: Wir reden in den 1980er Jahren über eine Zeit, in der Fax und Fernschreiber als Nonplusultra moderner Kommunikation galten. Man konnte sich als DDR-Journalist nicht wie heute einen Geschäftsbericht von, sagen wir, Siemens oder RWE mit seinen Berichtspflichten über Geschäftszahlen und Beteiligungen mal eben zusenden lassen oder einfach downloaden.

Und wer in der DDR ökonomisch Brisantes zu verraten hatte, ging damit selbstverständlich nicht zu den Partei- oder Blockparteijournalisten, sondern zu den Ostbüros der großen westdeutschen Medien. Auf diese Veröffentlichungen konnten interessierte Wirtschaftsjournalisten ebenfalls nicht zurückgreifen. Denn offiziell galten die »kapitalistischen Medien« als manipulativ.

Das hinderte die SED-Strategen allerdings nicht daran, in den Parteiorganen, die als Zeitung erschienen, Kommentare zu veröffentlichen, die man nur verstand, wenn man die verfemten Westmedien zur Kenntnis genommen hatte. Die kommunikative Situation war oftmals vollständig absurd.

Nach heutigen Maßstäben ist es schwer vermittelbar, dass es kaum jemanden so recht störte, auch viele Journalisten nicht, dass die westdeutsche Wirtschaft in Konkreta ein weithin unbekanntes Land blieb. Ein Grund für die Ignoranz war ein, man muss schon sagen, elitäres Überlegenheitsgefühl: Aus ihrer realsozialistischen Sicht stellte der damalige Kapitalismus in der BRD, auch wenn es ein rheinischer war, für die DDR-Meinungsstrategen ja keine wirkliche Alternative dar, schließlich galt es doch, ganz andere Kommandohöhen der Wirtschaft zu erstürmen.

Am erstaunlichsten bei so einem Rückblick ist aber, dass einem Wirtschaftsjournalisten von damals doch vieles von dem bekannt vorkommt, wie dem nunmehr globalisierten Kapitalismus argumentativ von links zu Leibe gerückt wird. Ein Unternehmen zahlt unter Tarif? Klare Ausbeutung aus Profitgründen und/oder Wettbewerbsdruck! Ein Konzern zahlt über Tarif, Bonusse und Prämien? Klarer Ausdruck einer Monopolstellung, verbunden mit erhöhtem Leistungsdruck auf jeden! Ein Unternehmen investiert in die Forschung? Ziel sind stets noch profitablere Geschäftsmodelle! Ein Unternehmen engagiert sich für soziale Projekte? Geschickte Eigen-PR, die aber keine grundlegende Lösung bringt! Ein Unternehmen hält höhere Umweltstandards ein? Mit Bio und Öko lässt sich einfach mehr Gewinn machen!

Die profitablen Antworten scheinen mitunter noch immer die einfachsten zu sein.

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