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Wie Labour mit Corbyns Brexit-Kurs verliert

Wegen Jeremy Corbyn Schlingerkurs beim Brexit verliert die Partei Mitglieder, Aktivisten und Wähler

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist zum Heulen! Anders als die deutschen Sozialdemokraten hat die britische Labour-Partei ein populäres und explizit linkes, sozialdemokratisches Programm. Sie wird aber vermutlich wegen des Rumlavierens in Sachen Brexit auch die nächsten Wahlen in Großbritannien verlieren. Die Haltung Jeremy Corbyns zum Thema ist symptomatisch für trotzige Altlinke, die sich borniert an alten ideologischen Ideen festklammern, während sich die Welt weiterdreht.

Labour setzt sich jetzt offiziell für eine erneute Brexit-Abstimmung ein. Doch diese Abstimmung soll erst nach einer Neuwahl stattfinden. Beim erneuten Referendum soll über einen – so hofft und suggeriert die Partei – besseren »Deal«, ausgehandelt durch die neue Labour-Regierung, abgestimmt werden. Gleichzeitig will man vorerst nicht für »Remain« werben, sondern neutral bleiben und in den Worten von Parteichef Jeremy Corbyn »anerkennen, dass es in Großbritannien Menschen gab, die für «Leave» und solche, die für «Remain», gestimmt haben«. Erst nach den Wahlen soll die Frage entschieden werden, ob die Partei einen EU-Verbleib unterstützt.

Damit hat sich der Parteichef mit seiner Position durchgesetzt. Das Rumeiern von Labour, vor allem aber von Corbyn, geht weiter. Der will sich nach wie vor nicht festlegen, ob er selbst für den EU-Verbleib oder den Brexit ist – und zerreißt damit seine Partei. Mittlerweile sind 80 Prozent der Labour-Mitglieder für Remain, auch ein Großteil der Parteilinken-Organisation Momentum. Deren überwiegend junge Mitglieder hatten ihm 2015 den Weg an die Parteispitze gegen den Widerstand des neoliberalen Tony-Blair-Flügels freigekämpft. Der Druck der Parteispitze sorgte in den vergangenen Tagen offenbar dafür, dass die Momentum-Delegierten Corbyns Linie zustimmten. Die direkten Corbyn-Verbündeten von der mächtigen Gewerkschaft Unison dagegen stimmten am Dienstag für den unterlegenen Antrag, dass sich Labour als Partei insgesamt für den EU-Verbleib einsetzen sollte.

Dieser Antrag scheiterte nach Abstimmung per Handzeichen denkbar knapp. Die beiden Leiterinnen der Sitzung interpretierten laut beobachtenden Journalisten das Abstimmungsergebnis offenbar unterschiedlich. Die geforderte Abstimmung per Karte und eine genaue Auszählung gab es deshalb nicht. Es bleiben also zusätzlich Zweifel, ob das Abstimmungsergebnis legitim ist.

Labour, vor allem aber Jeremy Corbyn, demonstriert damit erneut, dass man sich nicht entscheiden kann. Das schlägt sich in den Umfragen nieder: Vor zwei Jahren errang Labour noch 41,9 Prozent der Stimmen, aktuell liegt die Partei bei rund 25 Prozent. Die Zustimmungswerte Corbyns sind mittlerweile auf einen Negativrekord gesunken und deuten daraufhin, dass der Parteichef Labour »runterzieht«. Nur rund 20 Prozent aller Wähler sind - je nach Umfrage - aktuell zufrieden mit Corbyns Arbeit. Seit Ende 2017 sind seine Zustimmungswerte immer weiter gefallen.

Das entschiedene Sowohl-als-auch mag philosophisch zu begründen sein. Es ist trotzdem falsch. Corbyns Argumentation, dass Remain- und Leave-Wähler gleichermaßen von der unsozialen Austeritätspolitik der vergangenen Jahre betroffen sind, ist richtig, aber hilflos. Denn das Thema beherrscht nun einmal die britische Politik, Labour muss klar Position beziehen.

Dabei hat Labour ansonsten ein populäres Wahlprogramm: Abschaffung der Studiengebühren, Einführung einer kostenfreien Pflegeversicherung im Alter, der Bau von einer Million Sozialwohnungen, die Beteiligung von Beschäftigten an Profiten von Großunternehmen und die Einführung der vier Tage Woche in den nächsten zehn Jahren. Außerdem befürwortet Labour-Politiker und Schattenkanzler John McDonnel die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Zudem plant man den Aufbau eines staatlichen Elektroauto-Carsharing Programms als Teil eines Green New Deal. Die Partei hat konkrete Vorschläge, die Ungleichheit im Land zu reduzieren und das Leben der Menschen zu verbessern. Doch sie wird damit kaum durchdringen. Nicht nur, weil die überwiegend rechten Boulevard-Medien im Land sich gerne auf Antisemitismus-Anschuldigungen und das Schlingern beim Brexit stürzen, sondern auch, weil Corbyn diese Themen nicht mit einer klaren Entscheidung »abräumt«.

Es ist richtig, dass drei bis vier Millionen Labour-Wähler – etwa 30 Prozent der Wähler der Partei - für »Leave« gestimmt haben. Doch schon seit vergangenem Sommer gibt es im Land eine stabile Mehrheit von mehreren Prozentpunkten für »Remain«. Die Brexit-Kampagne war von rassistischer Panikmache, Falschinformationen und unhaltbaren Versprechungen geprägt. Das wissen mittlerweile auch die weißen Arbeiter in Englands verlassenen Provinzen. Ein Teil von ihnen hat aus Protest gegen real existierende Perspektivlosigkeit für den Brexit gestimmt. Engagierte Labour-Wahlkämpfer könnten versuchen, ihnen klarzumachen, dass das Programm der Partei reale Verbesserungen ihres Lebens bedeutet.

Natürlich gibt es unter Labour-Wählern – wie unter Gewerkschaftern, SPD-Mitgliedern oder Linkspartei-Anhängern hierzulande – auch Rassisten, die für den Brexit und in imperialistischer Empire-Sehnsucht für Leave gestimmt haben. Doch die werden durch eine »Sowohl-als-auch«-Brexit Position von Labour bestimmt nicht motiviert, für die Partei zu stimmen.

Schlimmer noch: Labour brechen gerade jüngere Wähler weg, die Corbyn 2015 an die Macht gebracht und der Parteilinken zur Übernahme der Mehrheitsposition geholfen haben. Es sind genau die Menschen, die das Parteiprogramm eigentlich an die Urnen treiben müsste, weil besonders junge Briten unter immer höheren Studiengebühren und prekäreren Arbeitsbedingungen leiden. Doch gleichzeitig ist für sie die EU selbstverständlich Teil ihrer Identität und ihres Alltags. Deswegen wollen drei Viertel in dieser Gruppe den EU-Verbleib.

Direkt nach der Wahl 2017 sahen Corbyn noch 68 Prozent der 18 bis 24-Jährigen laut Meinungsforschungsinstitut YouGov positiv. Nun ist die Zustimmung zum Labour-Chef in der regelmäßigen YouGov-Umfrage auf 34 Prozent abgestürzt. Unter den Briten insgesamt liegt die Netto-Beliebtheit von Corbyn mittlerweile bei minus 49 Prozentpunkten.

Natürlich steht hinter dem politischen Taktieren des Labour-Chefs die Angst vor dem Vorwurf des Brexit-Lagers, er habe den »Volkswillen« verraten. Doch das »Vorsichtigsein« ist noch schlimmer. Man verliert nach rechts und gleichzeitig im Pro-EU-Lager Stimmen. Rund zwei Dutzend Labour-Abgeordnete sitzen in Wahlkreisen, die 2016 mehrheitlich für Leave stimmen. Dass diese ihre Wahlkreise verlieren würden, wenn die Partei insgesamt für »Remain« wirbt, könnte passieren. Es ist aber nicht ausgemacht, weil die Stimmung im Land mittlerweile etwas EU freundlicher ist.

Relativ sicher ist dagegen: Rund ein Viertel derer, die 2017 für Labour stimmten, haben sich laut Umfragen mittlerweile einer anderen Partei zugewandt, die eindeutig pro Remain ist – die meisten in dieser Gruppe werden für die Liberaldemokraten stimmen. Dieser Trend dürfte sich mit Corbyns aktuellem Kurs eher verstärken. Die Partei, die aktuell 247 Abgeordnete im britischen Unterhaus hat, könnte so, wenn in einigen Wochen oder Monaten neu gewählt wird, mehr Mandate verlieren, als sie vielleicht mit ihrer Defensivstrategie gerade eben verteidigen kann.

Natürlich hat das Lavieren von Corbyn beim Thema Brexit nicht nur taktische Gründe. Eigentlich will der jahrelange linke EU-Kritiker Corbyn einen linken Brexit. Nur zögerlich hat sich der Politiker, der sich sonst in der Auseinandersetzung mit den Neoliberalen und Moderaten in der Partei gerne darauf beruft, die Mehrheitsposition zu vertreten, in den vergangenen Monaten in Richtung der mehrheitlichen pro-europäischen Stimmung in der Partei bewegt.

Der grummelige alte Mann war ähnlich wie der linke US-Demokrat Bernie Sanders wegen seiner inhaltlichen Positionen und nicht wegen seinem hässlichen Fahrradhelm bei den jungen Opfern von 30 Jahren Neoliberalismus so beliebt. So modern Corbyn in seiner Abkehr vom Dritte-Weg-Sozialdemokratismus ist, so illusorisch scheint sein Verständnis von den Möglichkeiten linke Politik in einem Post-Brexit Großbritannien zu sein, auf das sich reiche Unternehmer und Spender von Premier Boris Johnson so freuen. Hinter Corbyns langjähriger EU-Gegnerschaft und der Idee eines linken Brexits steht eigentlich die heimlige Sehnsucht nach einem nationalen Sozialstaat, wie ihn in Deutschland etwa Sahra Wagenknecht vertritt.

Doch die Idee eines linken EU-Austritts sollte spätestens jetzt endgültig beerdigt werden – nicht nur in Großbritannien. Kritik an unsozialer Politik der EU und dem marktwirtschaftlichen institutionellen Bias ihrer Institutionen ist für Linke weiterhin möglich, nötig und sinnvoll - als Nebenbeschäftigung, als transnationales mehr oder weniger radikales Reformprojekt, und nicht als Slogan auf Wahlplakaten.

Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass Labour die nächsten Wahlen gewinnt - auch wenn das derzeit nicht so aussieht. Vielleicht dringt Labour mit seinem Programm durch, vielleicht ignorieren genügend Wähler das Nichtentscheiden des Parteichefs beim derzeit dominierenden Thema. Doch wenn sie das nicht tun, dann war der Schlingerkurs Corbyns dafür verantwortlich, dass ein neuer linker Aufbruch in einem der mächtigsten Länder Europas ausgefallen ist – und das trotz bester Ausgangslage.

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