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Still und gemütlich nach Kenia
In Sachsen lassen sich CDU, Grüne und SPD mit der Koalitionsbildung viel Zeit
»Giftzwerg der Nation« - das ist kein nettes Etikett. Der in Dresden direkt in den Landtag gewählte Grüne Thomas Löser hat es Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) angeheftet, weil dieser öffentlich über das Klimapaket der Bundesregierung herzog. Bis zum 1. September hätte von der Attacke dennoch kaum jemand Notiz genommen. Dass sich Grüne und CDU hart angehen, war in Sachsen stets der Normalfall. Jetzt aber spitzen landespolitische Beobachter sofort die Ohren: Keilt die CDU zurück? Wird Löser von seiner Parteispitze zur Mäßigung gerufen? Denn seit knapp vier Wochen werden die Karten in der sächsischen Politik neu gemischt. Die Grünen und die CDU - sie sollen nun miteinander wollen.
Die bisherige Koalition aus CDU und SPD ist seit dem 1. September von einer Mehrheit meilenweit entfernt. Mit AfD und LINKE will die CDU nicht regieren, auch das Modell Minderheitsregierung schließt Kretschmer aus. Also sollen die Grünen mit an den Kabinettstisch. Ob das klappt, wird zunächst nur sondiert. Diesen Freitag treffen sich die jeweils zehnköpfigen Verhandlungsgruppen der drei Parteien zum zweiten Mal; danach wieder am 3. Oktober. Anschließend entscheiden die Gremien - bei den Grünen erst der Parteirat am 5. Oktober und dann ein Parteitag am Samstag darauf.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Wie es bisher in der großen Runde und in den Fachgruppen läuft - dazu erfährt die Öffentlichkeit nichts. Die Unterhändler halten zwar ihre jeweilige Basis auf dem Stand der Dinge; die CDU etwa veranstaltet eigens Regionalkonferenzen. Ansonsten aber hat man sich zu Schweigen verpflichtet. Einen der seltenen Einblicke in die Gespräche gab Wolfram Günther, Chefunterhändler und im Amt bestätigter Fraktionschef der Grünen. In einem Interview mit der »Freien Presse« aus Chemnitz sagte er zum einen zum »Giftzwerg«-Zitat seines Parteifreunds Löser, es lägen immerhin 30 Jahre Konfrontation hinter CDU und Grünen: »Da muss man sich aneinander gewöhnen.« Zum anderen aber ließ er durchblicken, dass Kretschmers öffentliche Attacken sich in den Verhandlungen nicht wiederholten: »In unseren Gesprächen erlebe ich ihn allerdings anders.« Wundern dürfte ihn das nicht. Einst war es Günther selbst, der den CDU-Chef mit einem Chamäleon verglich, weil er jedem Gesprächspartner erzähle, was dieser gern hören wolle.
Momentan werden solche Charakterstudien nicht wiederholt. Die Gespräche dürften auch so schwierig genug sein. Die Grünen gehen mit hohen Ansprüchen in die Verhandlungen; neben dem Erhalt der »natürlichen Lebensgrundlagen« strebten sie eine neue »Kultur des Zuhörens und Ermöglichens« im Land an, sagt die als künftige Ministerin gehandelte Ex-Spitzenkandidatin Katja Meier. Zudem, sagte Günther kürzlich, sei man »heiß entschlossen, das Parlament zu stärken«. Was davon mit der bislang oft als »Staatspartei« gescholtenen CDU möglich ist, wird sich zeigen müssen. Die kulturellen Differenzen zwischen der vor allem auf dem Land starken CDU und der Großstadtpartei Grüne sind erheblich; auch thematisch gibt es viele Streitpunkte: von den Modalitäten des Kohleausstiegs über Asylpolitik und Abschiebungen, das Polizeigesetz, das die CDU gern noch weiter verschärfen will, während die Grünen zusammen mit den LINKEN bereits gegen die kürzlich beschlossene Variante beim Verfassungsgericht geklagt haben, bis zur Gemeinschaftsschule.
Letztere hat auch die SPD auf dem Wunschzettel, die ansonsten als der pflegeleichtere der beiden kleineren Koalitionspartner gilt - vor allem deswegen, weil sie in den zurückliegenden fünf Jahren mit der CDU recht harmonisch regiert hat und sich die Spitzenleute Kretschmer und Martin Dulig, bisher Wirtschaftsminister, gut verstehen. Die SPD ging in die Sondierungen mit dem Ziel, den »politischen Wandel fortzuführen, den wir 2014 in Sachsen (...) begonnen haben«, heißt es in einem Beschluss des Landesvorstands. Die eigene Rolle in einer künftigen Kenia-Koalition definiert man als »Garant sozialer Gerechtigkeit und vor allem als Anwalt der arbeitenden Menschen«.
Ob das gelingt, wird so bald nicht klar sein. Die Devise der potenziellen Koalitionäre lautet: Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Die Verfassung schreibt vor, dass zwischen der Konstituierung des Landtags am kommenden Dienstag und der Wahl des Ministerpräsidenten - die üblicherweise erst stattfindet, wenn die ihn tragende Koalition steht und der entsprechende Vertrag ausgehandelt ist - maximal vier Monate vergehen dürfen. Das hieße: Mit den Koalitionsverhandlungen könnte man sich sogar Zeit lassen bis nach Weihnachten. Vorausgesetzt, die grüne Basis stimmt am 12. Oktober der Aufnahme zu.
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