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Fakten irritieren Hirte nicht
Dietmar Bartsch über den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit und den Ostbeauftragten der Bundesregierung
Ja, es ist viel erreicht worden in den Jahren nach der Deutschen Einheit. Niemand leugnet das. Im Gegenteil. Viele engagierte Menschen, Ost- und Westdeutsche haben Tolles geleistet. Aber der Lobhudelei des Ostbeauftragten der Bundesregierung Christian Hirte muss widersprochen werden. Die ostdeutsche Wirtschaftskraft je Einwohner liegt laut aktuellem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit bei 75 Prozent des Westniveaus. Das hört sich erst einmal passabel an.
Aber vergleichen wir diesen Wert mit den 1990er Jahren. 1995 lag diese Quote bei 65 Prozent. Die Wirtschaftskraft Ost wurde in einem knappen Vierteljahrhundert in Relation zum Westniveau um 10 Prozent gesteigert. In diesem Tempo würden wir die wirtschaftliche Einheit im Jahr 2081 vollenden. Donnerwetter! Fast 100 Jahre nach der Einheit.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Ein zweites Beispiel: Die Löhne haben inzwischen 85 Prozent des Westniveaus erreicht. Im Jahr 2000 lag dieser Wert bei 80 Prozent. Die Lohnangleichung zwischen Ost und West erreichen wir mit dieser Geschwindigkeit im Jahr 2073! In meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern liegt der Median-Bruttolohn bei 2496 Euro (Median heißt, die eine Hälfte verdient mehr, die andere weniger), in den westdeutschen Ländern liegt er bei 3434 Euro. Das sind fast 1000 Euro weniger und nur 73 Prozent des Westniveaus. Das ist das Gegenteil von gleichwertigen Lebensverhältnissen.
Beim Armutsrisiko geht es sogar in die komplett falsche Richtung. Mehr Menschen sind arm oder von Armut bedroht als vor einem Vierteljahrhundert - in Ost wie West. Gerade weil die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist, sind diese Zahlen eine Bankrotterklärung.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung lässt sich von Fakten nicht irritieren. Er stellte zuletzt blühende Landschaften in den neuen Ländern fest. Der Realitätsverlust von Hirte ist bemerkenswert. Ostdeutschland und immer mehr Regionen im Westen sind von blühenden Landschaften so weit entfernt wie der Ostbeauftragte von den Ostdeutschen.
Vieles, was der Bericht feststellt, geht noch immer auf die Kahlschlag-Politik der Treuhand zurück. Der Treuhand faktisch freie Hand zu lassen, war einer der schwersten Fehler der Deutschen Einheit. Dem Bericht zufolge ist die Mehrheit der Ostdeutschen unzufrieden mit dem Verlauf der Wiedervereinigung. Was folgt daraus für die Bundesregierung? Es wäre höchste Zeit für ein Ende der Ignoranz und eine gründliche Aufarbeitung der Treuhand- und Nachwendezeit!
Nur in 1,7 Prozent der Spitzenpositionen sitzen Ostdeutsche. Kein Rektor einer Universität kommt aus dem Osten, kein Bundesrichter. In den Bundesministerien kommen nur drei von 120 leitenden Beamten aus dem Osten. Von 217 Bundeseinrichtungen sind lediglich 23 im Osten angesiedelt. Von 109 Unternehmen, an denen der Bund beteiligt ist, haben fünf ihren Sitz in Ostdeutschland. Das ist alles föderal grob unfair! Wir fordern keine Extrawurst für den Osten, sondern einen Pakt für föderale Fairness - bei Personal, Behörden, Forschungseinrichtungen und Bundesunternehmen. Das wäre strukturpolitisch sinnvoll und von hoher Symbolkraft. Es geht um Augenhöhe 30 Jahre nach dem Mauerfall.
Interessant sind auch die Lücken im Bericht. Zum Beispiel wird über Kinderarmut und Niedriglohnsektor gar nicht berichtet. Ist es für die Einheit des Landes keine relevante Frage, wenn die Zahlen hier nicht nur sehr hoch sind, sondern zwischen Ost und West extrem unterschiedlich? Laut Kinderschutzbund leben ca. 4,4 Millionen Kinder in Armut. Im Osten ist die Quote fast doppelt so hoch wie im Westen. Kinderarmut ist skandalös, inakzeptabel und ein Zukunftsrisiko für unser Land. Wir brauchen endlich eine Politik der Null-Toleranz bei Kinderarmut. Das ist eine zentrale Herausforderung für die soziale Einheit des Landes.
Ostdeutsche arbeiten länger und verdienen weniger. Jeder dritte ostdeutsche Arbeitnehmer muss zu einem Niedriglohn arbeiten. Auch hier ist die Quote im Osten fast doppelt so hoch. Ostdeutschland hat den mit Abstand größten Niedriglohnsektor Europas. Wer hier nicht handelt, wird bei der Lohnangleichung zwischen Ost und West scheitern.
In sechs Wochen begehen wir den Jahrestag 30 Jahre Mauerfall. Selbstverständlich können die Ostdeutschen stolz sein: Viel wurde geleistet. Der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit zeigt aber auch: Das meiste wurde nicht wegen, sondern trotz der Bundesregierungen der vergangenen drei Jahrzehnte erreicht.
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