Der Kaiser wankt

Willy Wo-Lap Lam kritisiert zum 70. Jahrestag der Volksrepublik die Abkehr Chinas von Deng Xiaopings Reformprozess

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 6 Min.

Die politische Führung der Volksrepublik China hat in den vergangenen 70 Jahren ihren Kurs immer wieder radikal verändert. Sie werfen dem jetzigen Präsidenten Xi Jinping vor, damit zu drohen, das Land wieder von der Welt abzuschotten. Wie kommen Sie darauf?

Xi hat in den vergangenen beiden Jahren mehrmals den Begriff »ziligengsheng«, Selbstständigkeit oder Autarkie, benutzt, den Mao Zedong auch benutzt hatte. Damit will er US-Präsident Donald Trump mitteilen, dass China sich nicht von den Vereinigten Staaten einschüchtern lässt und keine Angst hat, den US-Markt zu verlieren. Der chinesische Binnenmarkt ist groß genug, um die Industrie zu erhalten. Xi meint damit auch, dass chinesische Hightech-Firmen wie Huawei, die derzeit von US-Sanktionen betroffen sind, ihre eigenen Hightech-Komponenten entwickeln müssen. Im 21. Jahrhundert ist es aber nicht möglich, zu maoistischer Autarkie zurückzukehren.

Im Interview

Willy Wo-Lap Lam ist Professor für Chinastudien an der Chinesischen Universität Hongkong. Bis 1989 war er Korrespondent der Hongkonger Tageszeitung »South China Morning Post« in Peking. Im Juli erschien sein neuestes Buch »The Fight vor China‘s Future: Civil Society vs. The Chinese Communist Party«. Mit ihm sprach Alexander Isele.

Die chinesische Wirtschaft exportiert und importiert Güter für Milliardenbeträge und ist daher auf offene Märkte angewiesen. Andererseits propagiert Xi das »Chinesische Modell«. Was meint er damit?

Es geht dabei um die strikte Kontrolle über ungefähr 100 staatlichen Unternehmen, speziell im Hightech Sektor, die beispielhaft für die Initiative »Made in China 2025« stehen. Dem Sektor geht es sehr gut, trotzdem ist er auf den Staat angewiesen, auf dessen enorme Investitionen und darauf, dass er den Tech-Unternehmen - die enge Beziehungen zu Spitzen der Partei haben - ein Monopol gewährt.

Im Vergleich zu staatlichen Unternehmen haben es private Firmen zunehmend schwer in China. Mehrere wurden in jüngster Zeit von Staatskonzernen übernommen. Warum kritisieren Sie das?

Private Unternehmen verlieren an Bedeutung. Das ist verstörend, denn es war eine der wichtigsten Reformen unter Deng Xiaoping, privatwirtschaftliche Unternehmen zuzulassen. Dass es ihnen nun schlecht geht, kratzt an den Grundpfeilern des ökonomischen Wunders, das China nach Deng erlebte.

Warum stehen Privatfirmen denn nicht mehr so gut da wie vor einigen Jahren?

Ein Grund liegt darin, dass ihnen die guten Verbindungen zu den Parteiälteren auf höherer Ebene fehlen, die oftmals auf Korruption bestehen. Die chinesische Wirtschaftswelt ist sehr korrupt. Wenn ein Privatunternehmer seinen Patron verliert, ist er nicht mehr geschützt und verliert gegen Konkurrenten. Ein anderer Grund ist der anhaltende Handelskrieg mit den USA, der sich ebenfalls dämpfend auf kleine und mittelgroße Hersteller und Exporteure in China auswirkt.

Als Xi Präsident wurde, erklärte er die Ära des »Sozialismus mit chinesischen Charakteristiken«. Können Sie das erklären?

Das ist einerseits das gleiche wie das »Chinesische Modell«: Ein Teil der Unternehmen dürfen sich frei in den globalen Markt integrieren. Ein anderer Teil bleibt unter der strikten Kontrolle des Staates, also der Kommunistischen Partei Chinas. Dazu gehört andererseits aber auch, dass es mit dem ökonomischen Fortschritt keine Öffnung für die Zivilgesellschaft gab.

Das heißt konkret?

Es gibt kein allgemeines Wahlrecht und keine Wahlen auf nationaler Ebene. Deng Xiaoping hat Wahlen auf der Ebene der Gemeinden eingeführt, auf anderen Ebenen gibt es sie bis heute nicht. Sozialistische Elemente wie staatliche Leistungen im Gesundheitssektor oder für den Ruhestand bleiben weiter unzureichend. Korruption ist endemisch, Nichtregierungsorganisationen oder andere Elemente einer Zivilgesellschaft werden nicht toleriert. Xi hat Mao Zedongs Idee von »yiyantang«, dem »Zimmer mit einer Stimme«, zurückgebracht: In einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen ist nur eine Stimme zu hören - die von Xi Jinping.

Aber Sie beschreiben in Ihrem Buch doch, wie Xi im Sommer 2018 aus der Partei scharf kritisiert wurde.

In der Partei gibt es derzeit drei Hauptströmungen, wobei die mächtigste die um Xi Jinping ist. Daneben gibt es die Schanghai-Fraktion, angeführt von dem früheren Präsidenten Jiang Zemin, und die Fraktion der Kommunistischen Jugendliga, die von dessen Nachfolger und Xis Vorgänger Hu Jintao angeführt wird. Nach außen erscheint Xi dominant. In der Partei aber gibt es eine Spaltung nicht nur entlang von Loyalitäten, sondern auch in der Frage, wie sich China weiterentwickeln soll. Xi Jinping wird sowohl von der Shanghai-Fraktion als auch von der Kommunistischen Jugendliga dafür kritisiert, dass er von den Reformen Deng Xiaopings abkehrt und Dengs marktorientierte ökonomische Ausrichtung umstößt. Und dass er einen maoistischen Personenkult wiederbelebt, sich selbst zu viel Macht gibt.

Wieso haben Xis Kritiker die Differenzen öffentlich gemacht?

Xi Jinpings Macht wird innerhalb der KPC nicht in Frage gestellt, allerdings hat seine Autorität gelitten. Dem »Kaiser auf Lebzeit« wird von Topkadern und aus den Parteirängen weniger Respekt entgegengebracht. Dazu kommen zwei Konflikte, bei denen ihm vorgeworfen wird, sie nicht zu lösen. Zum einen ist der Handelsstreit mit den USA festgefahren. Auch bei den Verhandlungen im Oktober rechnet niemand mit einer Übereinkunft.

Und zum anderen?

Xi wird vorgeworfen, mit den Protesten in Hongkong falsch umgegangen zu sein und Recht und Ordnung nicht wiederhergestellt zu haben.

Geht es dabei nur um Recht und Ordnung oder auch darum, die ehemalige Kolonie nicht besser in die Volksrepublik integriert zu haben?

22 Jahre nach der Rückgabe Hongkongs im Jahr 1997 identifizieren sich immer weniger Hongkonger mit der Kommunistischen Partei, die auf die Polizei angewiesen ist. Dafür tragen natürlich viele eine Verantwortung. Aber Xi ist der Führer der KPC, also wird er dafür kritisiert, daran gescheitert zu sein, die Herzen und Köpfe der Menschen in der Sonderverwaltungszone zu gewinnen. Bisher hat sich die Partei dazu entschieden, die 6000 Soldaten der Volksarmee, die in Hongkong stationiert sind, nicht einzusetzen. Allerdings haben die chinesischen Behörden 1000 Mitglieder der bewaffneten Volkspolizei sowie der Polizei aus der Provinz Guangdong nach Hongkong entsandt. Die werden in Uniformen der Hongkonger Polizei eingesetzt. Dies hilft sicherlich nicht, die Menschen zu gewinnen.

Die Repression in Hongkong wächst - wie stark ist sie in China selbst?

Die kommunistische Partei unter Xi versucht eine sehr strenge Kontrolle über die Menschen zu erzwingen. Die Große Firewall zensiert das Internet, wer Kritik übt, wird verhaftet. Der technisch hoch entwickelte Polizeistaat weist mehr als eine Ähnlichkeit mit einer George-Orwell-Dystopie auf. Künstliche Intelligenz und Gesichtserkennung werden zur Kontrolle der Bevölkerung eingesetzt. Am deutlichsten wird das in Xinjiang, wo männliche Uiguren, die muslimische Minderheit dort, in Umerziehungslager gesteckt werden. Nachdem die Polizei zuerst in Xinjiang und Tibet angefangen hat, DNA-Datenbanken aufzubauen, weitet sie das nun auf ganz China aus.

In ihrem Buch beschreiben Sie verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen, die kleine Erfolge haben, dem Druck der Partei zu widerstehen. Wie stark sind diese Gruppen?

Die KPC toleriert keine politische oder zivilgesellschaftliche Organistion, die nicht von ihr kontrolliert wird. Aber: In weniger als zehn Jahren wird die Zahl der Christen die von 90 Millionen Parteimitgliedern übersteigen, die mit unterschiedlichen Werten die Gesellschaft mitgestalten und die offiziellen Werte herausfordern. Intellektuelle haben Xis Innen- und Außenpolitik kritisiert. Auch wenn es derzeit ruhig ist, kann es in der Zukunft zu einem Aufbegehren gegen das diktatorische Modell der Regierung von Xi Jinping kommen.

Glauben Sie, dass die Zivilgesellschaft in Zukunft eine größere Rolle in China spielen wird?

Das braucht noch mindestens zehn Jahre. Aber Intellektuelle, Menschenrechtsanwälte oder Untergrundkirchen haben bereits landesweit solide Netzwerke aufgebaut und verbreiten Wertesysteme, die näher an den globalen Normen sind. Religiöse Führer im Untergrund kämpfen für eine Trennung von Kirche und Staat. Peking befürchtet, dass sollte die Partei ihren Zugriff auf die Kirchen verlieren, die circa 80 Millionen Gläubigen westlichen Werten wie Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit folgen werden.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.