Sigmar Gabriel

Leo Fischer über einen Mann, ohne den die SPD vielleicht nicht ganz so miserabel dastünde

Ein weiser Mann sagte mir neulich: Die wahrhaft Bösen sind diejenigen, die das Gefühl haben, die Welt schulde ihnen etwas. Noch in seinem angekündigten Rücktritt schafft es Sigmar Gabriel, dieses Gefühl besonders stark auszudrücken. Da er sich von der Partei »nicht mehr gebraucht« fühle, wolle er sein Mandat niederlegen - mittendrin in der Legislatur, wohl wissend, welchen logistischen und organisatorischen Aufwand ein solcher Willkürrücktritt für die Partei bedeutet, die ihm seit vielen Jahren in allen wesentlichen Fragen komplett hörig war. Ein Akt purer Eitelkeit, eine sinnlose Gemeinheit, Nachtreten gegen einen Verein, ohne den er nichts wäre, der ohne ihn aber vielleicht nicht ganz so miserabel dastünde - und ganz ohne Zweifel abgestimmt auf die Bedürfnisse jener möglichen Nebentätigkeiten, auf die auch Olaf Scholz nicht müde wird hinzuweisen. Kaum eine Aussage eines alten Schröderianers in den letzten Jahren, die sinngemäß nicht mit »anderswo könnte ich viel besser verdienen« übersetzt werden könnte.

Zehn Jahre lang hat Sigmar Gabriel erfolgreich das Erbe Schröders verteidigt, hat die SPD mit brachialer Gewalt in Große Koalitionen gedrängt, in denen ihre Substanz verbraucht wurde. An der unglaublichen personellen Leere der Partei hat er gehörig Mitschuld - unvergessen, wie er dem harmlosen, aber beliebten Martin Schulz mit Karacho in den Wahlkampf grätschte, weil er es nicht ertragen konnte, dass da jemand anderes Prozentpunkte holte als er selbst. Im Zweifel hatte die Partei mit ihm zu verlieren, basta.

Man wird vielleicht einmal ein Seminar im Organisationsmanagement am Beispiel Gabriel anbieten können - nicht für die SPD, bewahre, aber für eine eventuell neu zu gründende sozialdemokratische Partei, die aus den Fehlern der Vergangenheit lernen müsste: Wie jemand fortwährend Funktionen und Kompetenzen an sich zieht, allein um damit zu drohen, notfalls alles hinzuwerfen; wie jemand ständig Macht auf Macht häuft, um dann lautstark über die Schwere der Verantwortung zu jammern; wie jemand konsequent Konkurrenten aussticht, um dann darüber zu klagen, dass es der Partei an kompetentem Personal mangele; wie jemand die informelle Kumpelkultur einer Organisation ausnutzt, um dann ganz formelle Machtpolitik gegen die früheren Kumpel zu machen; wie jemand als Journalist in sündhaft teuer bezahlten Kolumnen fortwährend gegen den Verein Stimmung macht, deren Führungsgremium er angehörte. Als Teil der Aufsteiger-Generation westlicher Babyboomer hat Gabriel konsequent die Leitern weggestoßen, über die er zu Wohlstand und Macht gekommen ist - während er konsequent das hohe Lied der Moralität trällerte. Unvergessen auch, wie der Sohn eines zeitlebens reuelosen Nationalsozialisten in Israel meinte, Wirres über »Apartheid« hervorstammeln zu müssen, wo man genauso gut den Schnabel hätte halten können.

Links blinken, rechts fahren - als Reaktion auf die katastrophalen Wahlergebnisse der SPD verordnete er der Partei mehr von der gleichen falschen Medizin, die in Deutschland die Antwort auf jede gesellschaftliche Malaise ist, das Aspirin der Politik: die Mitte. Auf dem Weg in die Mitte blieb von der SPD nichts übrig als ein Sprungbrett ins höhere Management für einige wenige - die das Sprungbrett sogar noch dafür kritisieren, beim Absprung zu laut zu quietschen. Zu erwarten steht, dass Gabriel auch aus der Rente heraus der Rest-SPD weiterhin Ärger bereiten wird: denn kein Zorn glüht länger als die gekränkte Eitelkeit des Patriarchen. Die nächsten missgünstigen Leitartikel dürften bereits zu dieser Stunde in den Stehsatz laufen.

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