»Wir brauchen eine demokratische Lösung«

Der Katalane Joan Tardà über die Regierungsbildung in Spanien und Urteile gegen Unabhängigkeitsbefürworter

  • Ralf Streck
  • Lesedauer: 5 Min.

Mit dem zweiten Jahrestag des Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien am 1. Oktober wird ein heißer Herbst in Spanien eingeläutet. Im Oktober sollen die Urteile gegen die ehemaligen Mitglieder der Regierung Puigdemont wegen angeblicher Rebellion, Aufruhr und Veruntreuung verkündet werden, am 10. November stehen in Spanien die vierten Wahlen in vier Jahren an, da der Sozialdemokrat Pedro Sánchez keine regierungsfähige Mehrheit bekam. Wie schätzen sie die Lage ein?

Es ist klar, dass die Sozialdemokraten (PSOE) nicht begreifen, was für die Qualität der Demokratie im spanischen Königreich in Bezug auf Katalonien auf dem Spiel steht. Obwohl wir sie unterstützt haben, um den rechten Ministerpräsidenten Mariano Rajoy von der Volkspartei PP zu stürzen, obwohl das Unabhängigkeitslager insgesamt für die Gesetze und Dekrete von Sánchez gestimmt hat, um ein Dialogszenario zu eröffnen, war das unmöglich. Er wich vor dem Druck von rechts zurück und hielt einen Vorschlag nicht aufrecht, im Dialog eine Art Notar als unabhängigen Zeugen zu haben, der den Verlauf und die Absprachen bestätigt. Obwohl die ERC sich bei der Investitur enthalten hat, um eine Regierung aus PSOE und Podemos zu ermöglichen, verweigerte Sánchez das Abkommen mit Podemos, denn er setzt auf ein Bündnis mit der rechten Partei Ciudadanos (Bürger, d. Red.).

Zur Person

Joan Tardà ist Lehrer und saß von 2004 bis 2019 für die katalanischen Linksrepublikaner ERC im spanischen Parlament in Madrid und war dort zuletzt Sprecher der ERC-Fraktion. Zu den Wahlen am 28. April trat der 66-Jährige nicht mehr an. Er wurde gerade als Führungsmitglied auf dem ERC-Kongress wiedergewählt. 

Hat die ERC Sánchez’ Taktik erwartet und ihm deshalb ihre Stimmen ohne jede Gegenleistung und Gespräche geschenkt?

Wir gehen davon aus, dass am Ende der gewinnt, der eine Kultur der Nicht-Blockade anführt. Wenn wir einen Dialog mit Spanien wollen, müssen wir eine Rechtsregierung verhindern, die noch intoleranter wäre. Eine PSOE-Regierung - von Podemos gestützt - wäre etwas besser als eine der rechten Volkspartei PP, die von den Ciudadanos gestützt wird. Ich glaube, Sánchez wollte uns als Ausrede nutzen, das Narrativ schaffen, dass er wegen den Katalanen keine Regierung bilden konnte.

Letztlich scheiterte die Regierungsbildung an der PSOE und Podemos, aber es gab viel Kritik an der ERC in Katalonien. War die Haltung der ERC eine Vertiefung der Spaltung im Unabhängigkeitslager wert?

Es gibt keine Spaltung. Wir wollten Sánchez ja auch nicht wählen, sondern ihn nur nicht blockieren. Auch wenn die PSOE die Zwangsverwaltung Kataloniens unter der PP-Regierung von Mariano Rajoy mitgemacht hat, ist sie doch anders als eine Regierung von PP und Ciudadanos. Auch in der internationalen Öffentlichkeit wird da klar differenziert.

Vor den Wahlen am 10. November in Spanien splittert sich die Linke weiter auf. Sinken damit nicht die Chancen für eine Linksregierung noch weiter?

Pedro Sánchez spielt erneut im Casino. Alles oder Nichts ist seine Devise. Er scheint sogar Russisches Roulette spielen zu wollen. Ich habe ihm im Parlament, als er die vergangenen Wahlen Ende April angesetzt hatte, gesagt, dass er mit den Kräfteverhältnissen zwischen links und rechts spielt. Es gab aber auch danach eine linke Mehrheit, da Sánchez sie gewonnen hat. Ich hatte vorhergesagt, dass wir nach den Wahlen am gleichen Punkt wie zuvor stehen würden. So kam es.

Was erwarten Sie von Sánchez und der PSOE, was von der Unabhängigkeitsbewegung?

Die PSOE müsste akzeptieren, dass es eine Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien gibt, die auf knapp 50 Prozent der Stimmen kommt und etwa 80 Prozent hier ein mit dem Staat paktiertes Referendum fordert. Das wird so bleiben. Die Unabhängigkeitsbewegung muss akzeptieren, dass sie noch keine klare Mehrheit hinter sich bringt. Man muss die Realität akzeptieren und unter Demokraten eine demokratische Lösung finden. Das ist ein Referendum. Es ist unvermeidbar und unser Ziel. Wenn es diese Lösung nicht gibt, ist klar, dass die spanische Demokratie weiter Schaden nimmt. Es braucht einen Dialog ohne Vorbedingungen. Sánchez bietet aber bestenfalls ein besseres Autonomiestatut an.

Wenn Sánchez auf ein Bündnis mit den Ciudadanos aus ist, sinken dann die ohnehin geringen Chancen auf eine Konfliktlösung nicht noch weiter?

Es ist klar, dass sich der Konflikt damit verschärfen wird. Der emotionale Bruch, der zwischen Katalonien und Spanien besteht, wird nur noch größer. Glaubt wirklich in Madrid jemand, man könnte dieses Problem über Repression lösen? Das ist eine unglaubliche Torheit.

Stehen wir mit den im Oktober bevorstehenden Urteilen - auch gegen ihren Parteichef Oriol Junqueras - vor einer Eskalation? Wie wird die katalanische Bevölkerung angesichts von absehbaren harten Strafen ausfallen?

Das Urteil wird eine kulturelle und politische Bewegung für eine Amnestie schaffen. Ich bin überzeugt, dass es eine geeinte massive, friedliche und dauerhafte Reaktion geben wird. Der spanische Staat will stets unseren friedlichen und demokratischen Protest zu einem Problem der öffentlichen Ordnung machen. Das sieht man auch an den Inhaftierungen von sieben Mitgliedern der Komitees zur Verteidigung der Republik, denen nun sogar Terrorismus vorgeworfen wird.

Welche Rolle wird ziviler Ungehorsam spielen, der propagiert wird? Und wie steht die ERC dazu?

Der zivile Ungehorsam ist jedenfalls ein sehr nützliches Mittel, das sich in Katalonien und an anderen Orten immer an der Friedfertigkeit orientiert. Es handelt sich um ein nützliches Werkzeug, denn es stärkt die Menschen, die für ihre Belange eintreten. Wird der dahinterstehende Wille von vielen geteilt, entsteht daraus eine massenhafte Haltung.

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