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Das Entsetzen ist riesig
In Halle gedenken Politiker und Anwohner den Opfern des antisemitischen Anschlages
Am Ende der gelben Backsteinmauer, die den jüdischen Friedhof von Halle umschließt, befindet sich eine Tür aus braunem Holz. Die Klinke fehlt. Rund um die Blende gibt es mehr als ein Dutzend Vertiefungen: Löcher von Schüssen, die der 27-jährige Stephan B. am Mittwochmittag auf die Tür abfeuerte. Holz splitterte, das Schloss aber hielt stand. Damit blieb dem Täter der Weg in den Innenhof und die dahinter liegenden Räume der Jüdischen Gemeinde Halle verwehrt, in der gut 60 Menschen Jom Kippur begingen, den höchsten jüdischen Feiertag. Zu dem Blutbad, das der rechtsextreme Täter offenkundig geplant hatte, kam es nicht. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, spricht von »großem Glück«, dass es nicht zu einem »Massaker unbeschreiblichen Ausmaßes kam, wie wir es in Deutschland noch nicht erlebt haben«.
Dennoch ist das Entsetzen über die Tat, bei der zwei Menschen wahllos getötet wurden, riesig - und zwar weltweit. Am Tag nach dem geplanten Anschlag reihte sich in der engen Straße im sonst eher beschaulichen Paulusviertel Kamera an Kamera. Hunderte Medienvertreter nicht nur aus ganz Deutschland, sondern auch aus Frankreich und Schweden, Großbritannien und den USA übertrugen teils in Liveschaltungen. Am Mittag legte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Gebinde vor der Tür zur Synagoge nieder.
Dort wie an der Stelle einige Schritte weiter, wo der Täter eine junge Frau kaltblütig niedergeschossen hatte, standen schon zuvor zahllose Kerzen und Blumen. Im Laufe des Tages bildeten sich Schlangen von Menschen, die sichtlich betroffen und wortlos Lichter entzündeten und weitere Sträuße ablegten. Am Haus gegenüber hatten Bewohner ein Transparent vor den Fenstern angebracht: »Humboldtstraße gegen Antisemitismus und Hass«.
Kurz nach dem Bundespräsidenten stattete auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) der jüdischen Gemeinde einen Besuch ab, begleitet von seinem sachsen-anhaltischen Landeskollegen Holger Stahlknecht und Ministerpräsident Reiner Haseloff (beide CDU). Der Regierungschef sagte in die Kameras, man wolle das »politisch klare Signal« abgeben, dass jüdisches Leben »zu diesem Land gehört« und seine Vertreter sich »sicher fühlen« müssten. Darüber, wie das besser garantiert werden könne, habe er sich zuvor auch mit dem israelischen Botschafter unterhalten: Dort gebe es »Erfahrung mit radikalisierten Einzeltätern«.
Um einen solchen soll es sich nach jetzigem Stand der Erkenntnisse bei Stephan B. handeln. Der Mann, der aus Benndorf im Mansfelder Land stammen soll, war allein zur Synagoge gefahren und hatte dort das Feuer eröffnet, scheiterte aber mit seinem ursprünglichen Plan. Elf Minuten später attackierte er einen Döner-Imbiss in der Nachbarschaft und erschoss einen Mann; es kam zu einem Schusswechsel mit der Polizei. Auf der Flucht verletzte der Attentäter zwei weitere Menschen schwer. Anderthalb Stunden nach dem Beginn der Attacke wurde er nach einem Unfall verhaftet.
Die Frage, ob Sicherheitsbehörden früher auf seine Pläne aufmerksam hätten werden können, ist offen. Drängende Fragen stellen sich schon jetzt mit Blick auf den Schutz jüdischer Einrichtungen. Die Hallenser Synagoge stand nicht unter Polizeischutz. Man habe immer wieder entsprechende Wünsche geäußert, sagte Anastassia Plethoukina, Mitglied der Hallenser Gemeinde, der »Jüdischen Allgemeinen Zeitung«. Die Antwort sei stets gewesen, es liege »keine aktuelle Bedrohung« vor. Bei dem einzigen Wachmann, der den Eingang schützte, handelt es sich um ein Mitglied der Gemeinde.
Stahlknecht verteidigte das mit einer Gefährdungsanalyse des Bundeskriminalamtes, der zufolge es für Halle »keine Hinweise auf potenzielle Tötungsdelikte mit antisemitischem Hintergrund« gegeben habe. Er betonte aber, dass die Synagoge bereits bisher durch »unregelmäßige Bestreifung« bewacht worden sei. Das soll sich jetzt ändern. Zentralratspräsident Schuster erklärte, er habe die Zusicherung der Landespolitiker erhalten, dass es ab sofort »nachhaltigen Polizeischutz« für die Synagogen in Halle, Magdeburg und Dessau-Roßlau geben werde.
Das ist dringend notwendig. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland seien »in erheblichem Maß verunsichert«, sagte Schuster. In seiner bayrischen Heimat seien bei allen 13 jüdischen Gemeinden während der Gebetszeiten Polizeistreifen präsent. Bereits kommende Woche stehen mit dem Laubhüttenfest weitere jüdische Feiertage an.
Die Landespolitik in Sachsen-Anhalt werden das geplante Attentat und seine Hintergründe weiter beschäftigen. Die LINKE hat eine Sondersitzung des Landtags beantragt. Man brauche, sagte der Landesvorsitzende der Partei, Stefan Gebhardt, eine »nachhaltige Debatte« über Rechtsextremismus »in all seinen abscheulichen Facetten«. Im Plenum solle dabei auch der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden reden dürfen. Im Landtag vertreten ist als zweitstärkste Fraktion auch die AfD, der Stahlknecht für das in Halle geplante Verbrechen eine indirekte Mitschuld gab: Man erlebe seit der Landtagswahl 2016 im Parlament einen »Duktus und eine Diktion, die an längst vergangene Zeiten erinnern«. Wer sich dieser Sprache bediene, sei zwar »nicht juristisch schuldig, aber Wegbereiter und geistiger Brandstifter«.
Derweil beeinflussen die aktuellen Ereignisse auch die Kommunalpolitik in Halle. Dort wird an diesem Sonntag ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Zumindest Hendrik Lange, der Kandidat von LINKE, SPD und Grünen, erklärte, er werde seinen Wahlkampf bis auf weiteres unterbrechen. Eine für diesen Freitag geplante gemeinsame Kundgebung mit Juso-Chef Kevin Kühnert dürfte demnach abgesagt werden.
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