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»Es soll alles zerstört werden«

Anita Starosta von Medico International über die humanitäre Katastrophe in Rojava

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 7 Min.

Vergangenen Donnerstag begann die türkische Armee ihren Großangriff auf Rojava. Wie ist die aktuelle Lage der Zivilbevölkerung?

Die Situation der Menschen vor Ort ist furchtbar. Unsere Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond spricht von bisher 35 Toten und 65 schwerverletzten Zivilist*innen. 200.000 Menschen sind auf der Flucht.

Im Interview

Anita Starosta ist bei der Frankfurter Menschenrechts- und Hilfsorganisation Medico International Referentin für Türkei, Nordsyrien und Irak. Im April 2019 besuchte sie das al Hol-Camp in Rojava. Vor Ort unterstützt Medico International den Kurdischen Roten Halbmond. Mit Starosta sprach Sebastian Bähr. Foto: Medico International

Wohin können sich die Flüchtlinge bewegen?

Das Land verlassen können nur wenige, die meisten bleiben in der Region und den kurdischen Gebieten. Ein großes Problem ist, dass fast alle bevölkerungsreichen Städte, wie zum Beispiel Kobanê oder Qamischli, im Kriegsgebiet liegen. Damit verlassen die Fluchtbewegungen auch einen großen Teil der Infrastruktur Rojavas, die in den letzten Jahren mühsam aufgebaut wurde. Im Übrigen dürfen wir nicht vergessen, dass in Idlib im Nordwesten Syriens gerade etwa eine halbe Million Menschen ebenfalls auf der Flucht vor den Gefechten in der Region sind. Die Grenze zur Türkei ist dicht und die Stimmung gegen die etwa drei Millionen Flüchtlinge im Land kippt, auch aufgrund Erdoğans Propaganda.

Unter welchen Bedingungen arbeiten die humanitären Helfer*innen?

Die Helfer*innen vor Ort machen eine beeindruckende Arbeit. Die Opferzahlen würden weitaus höher liegen, wenn die Gebiete nicht rechtzeitig evakuiert worden wären und die humanitäre und gesundheitliche Versorgung nicht unter großem Risiko fortgesetzt würde. Wie hoch dieses Risiko ist, zeigt die Entführung der Besatzung von zwei Krankenwagen durch türkische Milizen am Sonntagmorgen.

Es gibt auch Meldungen, wonach türkische Kriegsflugzeuge Wohnorte, Staudämme und Krankenhäuser angegriffen haben. Was sind hierzu Ihre Informationen?

Es gibt übereinstimmende und seriöse Berichte über diese Angriffe auf Krankenstationen, Krankenwagen und zivile Infrastruktur. Die türkische Armee hatte beispielsweise am Samstagmorgen eine medizinische Ersthilfe-Station des Kurdischen Roten Halbmonds im Süden der Stadt Raʾs al-ʿAin bombardiert. Nach aktuellem Stand wurden dabei mindestens ein Mitarbeiter schwer verletzt und zwei Ambulanzen beschädigt. Die mobile Erste-Hilfe-Station, in der schwerverletzte Zivilisten stabilisiert werden, musste geräumt werden. Schon beim türkischen Einmarsch in Afrin im Frühjahr 2018 hatte die türkische Armee ein vom Kurdischen Halbmond betriebenes Krankenhaus bombardiert. Der Sinn ist klar: Es soll schlicht alles zerstört werden. Das ist kein Krieg gegen die kurdische Miliz YPG, sondern gegen das demokratische Projekt Rojavas und seine Bevölkerung.

Zu der Bevölkerung gehören auch Minderheiten wie Jesiden und Christen. Vertreter*innen dieser Gemeinden warnten jüngst in Erklärungen vor einem Genozid. Ist diese Sorge berechtigt?

Man darf nicht vergessen: An den Jesiden wurde durch den IS schon 2014 im irakischen Shingal ein Genozid verübt. Das wird immer in Erinnerung bleiben. Nach der Verfolgung durch die Dschihadisten ist in Nordsyrien jedoch ein friedliches Zusammenleben der religiösen und ethnischen Minderheiten gelungen - ob assyrische Christen, Armenier, Kurden oder Jesiden. Sie alle fürchten jetzt die Rückkehr des Dschihadismus und ihre Auslöschung. Wenn die religiösen und ethnischen Minderheiten die Region verlassen müssen, werden sie niemals wiederkommen.

Was wären die Folgen für die Region?

Zum kulturellen und religiösen Verlust käme auch ein sozialer und ökonomischer. Es geht um einen Bevölkerungsaustausch in der Region. Viele Christen gehören traditionell zur oberen Mittelschicht und sind in der Regel gut ausgebildet. Wenn diese Bevölkerungsgruppe geht, wird die Zukunft der Region noch schwieriger. Der militante Islam weiß das, und deshalb gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Anschläge auf christliche Restaurants in Qamischli, deren Folge nicht nur Tote waren. Familien packten die Koffer und flohen nach Europa. Jeder türkische Luftangriff auf ein christliches Viertel ist also nicht nur ein verbrecherischer Akt gegen das humanitäre Völkerrecht. Er ist ebenso Teil einer Absicht, die ethnische und religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung zu verändern.

Zur Erfüllung dieser Ziele bedient sich die Türkei scheinbar auch der Hilfe des IS. Mehrere Anhänger und ihre Angehörigen sollen bereits aus Flüchtlingslagern und Gefängnissen geflohen sein.

Der IS wittert seine Chance auf Reorganisierung, weil der Krieg die kurdische Infrastruktur schwächt. Im Ayn-Issa-Camp gelang am Sonntag mehreren hundert Gefangenen die Flucht. Außerdem gibt es Berichte unserer Partner über Unruhen im al Hol-Camp - das Flüchtlingslager, in dem sich tausende IS-Anhänger*innen aufhalten, unter ihnen 10.000 ausländische Frauen und Kinder. Die kurdischen Militär- und Sicherheitskräfte haben sich teilweise zurückgezogen, sie müssen zur Grenze. Die Türkei bombt grade den militanten Islamismus zurück.

Eine Situation, die die internationale Staatengemeinschaft hätte verhindern können.

Das Problem bestand schon vor Kriegsausbruch. Seit Monaten und insbesondere in den vergangenen Wochen warnten die Kurden vor einem Wiedererstarken des IS und baten um internationale Unterstützung bei der Rückholung, Gerichtsbarkeit und Betreuung der IS-Anhänger*innen. Sollte es jetzt zum Schlimmsten kommen, trägt die internationale Gemeinschaft die Verantwortung für das Desaster. Auch die Bundesregierung ignoriert seit Monaten das Problem und weigert sich, IS-Kämpfer*innen mit deutscher Staatsbürgerschaft nach Deutschland rückzuführen. Wie in allen anderen Feldern versucht Europa, die Folgen eines internationalen Krieges in der Region einzusperren.

Mehrere EU-Regierungen, auch die Bundesregierung, haben angekündigt, zukünftig Waffenlieferungen an die Türkei einzuschränken. Wie ist dieser Schritt zu bewerten?

Der Schritt ist natürlich erstmal positiv zu bewerten. Doch gleichzeitig ist er scheinheilig und vor allem ein Manöver zur Beruhigung des öffentlichen Diskurses. Es rollen jetzt - wie auch schon beim türkischen Einmarsch nach Afrin - deutsche Panzer in die kurdischen Gebiete. Seit Jahren gibt es erheblichen Druck auf die Bundesregierung, die Waffenexporte endgültig zu stoppen, doch es geschah nichts. Die deutsche Rüstungsindustrie - beispielsweise Rheinmetall - verdient sich an Erdoğans Kriegsregime eine goldene Nase. Ein Drittel aller Kriegswaffenexporte aus Deutschland gehen in die Türkei. Das ist Deutschlands Beitrag zum Krieg in Syrien.

Was wäre notwendig, um den türkischen Angriff zu stoppen?

Ein erster Schritt in Europa wäre sicherlich die Aufkündigung des EU-Türkei-Deals, die Einstellung der damit verbundenen Zahlungen sowie die Einstellung aller Rüstungsexporte in die Türkei. Solange die gegenwärtigen Beziehungen bestehen, machen sich Bundesregierung und EU erpressbar und sind mitverantwortlich für Erdoğans Krieg.

Welche Gefahr geht von Erdoğans Krieg für das politische Projekt Rojava aus?

Mit dem Krieg gegen die Kurden ist vor allem das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und religiöser Minderheiten in Rojava gefährdet. Die kurdische Selbstverwaltung ist der bedeutendste Versuch, eine demokratische Alternative in der Region zu etablieren. Diese Bemühungen müsste die internationale Gemeinschaft eigentlich stützen. Die zahlreichen Demonstrationen auf der ganzen Welt zeigen, dass viele Menschen das verstanden haben. Die Solidarität ist ermutigend und muss weitergehen, um das Versagen der internationalen Politik zu beenden – im syrischen Bürgerkrieg und der mit ihm untrennbar verknüpften Migrationspolitik. Das demokratische Rojava darf nicht zerstört werden.

Wie ist der türkische Angriff völkerrechtlich zu bewerten?

Der Angriff der Türkei auf Rojava bricht eindeutig Völkerrecht und der Angriff auf humanitäre Helfer verletzt die Genfer Konvention. Die Invasion ruft aber in mehrfacher Hinsicht eine große Verzweiflung hervor: Die Bevölkerung leidet seit mittlerweile acht Jahren unter dem syrischen Bürgerkrieg, viele Menschen wurden schon einmal oder öfters vertrieben. Rojava gab ihnen ein Zuhause, obwohl es 2015 vom IS angegriffen wurde. Jetzt lässt die Anti-IS -Koalition nicht nur diejenigen im Stich, die gegen den IS gekämpft haben. Sie lässt auch alle Menschen fallen, die unter ihm gelitten haben.

Medico International hat eine Spendenkampagne gestartet, um die Menschen in Rojava zu unterstützen.

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