Warum ich den Hashtag #metoo nie benutzt habe

Wir brauchen eine Strategie, die nicht auf individueller Schuld aufbaut, sondern auf kollektiver Verantwortung.

  • Lou Zucker
  • Lesedauer: 5 Min.

Ich habe noch nie etwas unter dem Hashtag #metoo geschrieben. Nicht weil ich keine Erfahrungen mit sexualisierten Übergriffen habe. Auch nicht, weil ich den Hashtag ablehne. Ganz im Gegenteil, ich finde #metoo und seine gesellschaftliche Wirkung bahnbrechend und wichtig. Doch für einen Großteil der Fälle von sexualisierter Gewalt und Belästigung ist er einfach nicht praktikabel.

Seitdem #metoo vor genau zwei Jahren durch einen Tweet von Alyssa Milano groß wurde, hat sich viel verändert: Sexuelle Belästigung im Alltag und am Arbeitsplatz gelten in der öffentlichen Wahrnehmung auf einmal nicht mehr als normal und nebensächlich, sondern als Problem. Damit wurde die Basis geschaffen, um das Problem zu bekämpfen – ein fundamentaler Schritt. Ich bin mir auch sicher, dass die Präsenz von #metoo in der öffentlichen Debatte vielen Frauen und Betroffenen mehr Selbstbewusstsein gegeben hat, ihre eigenen Grenzen aufzuzeigen und über ihre Erfahrungen zu sprechen. Doch einen Täter öffentlich auf Twitter zu beschuldigen, ist nur in sehr spezifischen Fällen von sexualisierten Übergriffen möglich oder nützlich. Die große Mehrheit von uns braucht andere Strategien. Und als Gesellschaft brauchen wir die auf Dauer auch.

Diesen Schritt kann man sich nur leisten, wenn man nichts mehr zu verlieren hat

Viele Betroffene in prominenten #metoo-Fällen gingen erst Jahre, teils Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit. Diesen Schritt kann man sich nämlich nur leisten, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Wenn man in keinerlei persönlichen Beziehung, in keinem direkten Abhängigkeitsverhältnis mehr zum Täter oder seinem Umfeld steht. Und genau das ist in den meisten Fällen von sexuellen Grenzüberschreitungen nicht der Fall. Im Gegenteil: Oft machen sich Täter von sexualisierter Gewalt ein emotionales oder berufliches Abhängigkeitsverhältnis zu Nutze. Einer Studie des Bundesfamilienministeriums zufolge sind nur knapp 15 Prozent von ihnen Unbekannte, in 50 Prozent der Fälle sind es Partner, Ex-Partner oder Geliebte der Betroffenen.

Ich war gerade 17 geworden, als ich den Cousin meiner damaligen besten Freundin in einer anderen Stadt besuchte. Er war Mitte Zwanzig, Künstler und Tätowierer, ich war total verknallt in ihn. Wir gingen mit Freunden von ihm etwas trinken und schliefen danach bei einem seiner Freunde im Wohnzimmer auf dem Boden, ein Freund, er und ich. Es war bitter kalt, er und ich teilten uns eine Decke. Ich war todmüde und schon fast eingeschlafen, da spürte ich seine Hand zwischen meinen Beinen. Es fühlte sich nicht gut an. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch wenig sexuelle Erfahrungen gemacht. Ich hätte vielleicht Lust gehabt, mit ihm zu knutschen aber einfach so an der Vulva betatscht zu werden, wollte ich nicht. Ich schob seine Hand weg.

Er fing sofort wieder an. So ging es die ganze Nacht. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, weil ich seinen Freund nicht wecken wollte – und weil ich ja eigentlich verliebt in ihn war und absurderweise Angst hatte, dass er mich nicht mehr mögen würde, wenn ich zu abweisend wäre. Aber immer und immer wieder eine Hand wegschieben, sollte eigentlich deutlich genug sein. Dennoch hörte er nicht auf. Es fühlte sich an wie ein endloser Kampf. Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu.

Ich hätte Angst gehabt, meine Freundin zu verlieren

Ich konnte das Erlebnis damals nicht einordnen. Ich war es nicht gewohnt, Worte wie »sexueller Übergriff« zu hören, in der Zeitung zu lesen und zu benutzen. Es fühlte sich scheiße an, aber ich dachte irgendwie, das wäre normal und schob das Ganze in eine sehr dunkle Ecke meines Gehirns, wo ich es jahrelang nicht wiederfand. Wäre #metoo zehn Jahre früher passiert, wäre das sicher anders gewesen.

Was nicht anders gewesen wäre: Ich hätte nicht öffentlich auf Twitter darüber schreiben können. Ich hätte Angst gehabt, meine Freundin zu verlieren. Ich hing damals viel bei ihr zuhause herum, ihre Familie war so etwas wie meine Familie. Hätte ich den Fall öffentlich gemacht, hätte ich die ganze Familie »verunglimpft«, sie hätten bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Der Cousin meiner Freundin war zu der Zeit in einer Beziehung, vermutlich wäre es auf mich zurück gefallen, dass er sie mit mir »betrogen« hatte. Und tatsächlich wollte ich zu der Zeit auch ihn nicht verlieren.

Ich habe nicht das Bedürfnis danach, sie bloßzustellen

Die Geschichte ist nur eine von vielen, die ich unter dem Hashtag #metoo hätte erzählen können. Einige von ihnen handeln von Belästigung, Bedrohung und sexuellen Übergriffen auf der Straße. Viele handeln aber auch von Affären, von Freunden und Bekannten, mit denen ich freiwillig etwas hatte – und die dann meine Grenzen nicht respektierten. Ich habe nicht das Bedürfnis danach, sie bloßzustellen. Was ich möchte ist, in einer Welt leben, in der man schon als Jugendliche lernt, die eigenen Grenzen ernstzunehmen, sie zu kommunizieren – und sie auch bei Anderen zu erfragen und zu respektieren.

So eine Welt schaffen wir nicht, indem wir einzelne berühmte Persönlichkeiten öffentlich an den Pranger stellen. Das führt zu einer Atmosphäre, in der Männer sich vielleicht weniger sicher fühlen, Übergriffe zu begehen – aber nicht zu einer, in der sie lernen, sich kritisch damit auseinander zu setzen, wann sie die Grenzen einer anderen Person überschreiten. Wir brauchen eine Atmosphäre, in der Menschen jeden Geschlechts sich fragen, was eigentlich wirklich ihre sexuellen Bedürfnisse sind – und was sie nur machen, um einem bestimmten Bild von Männlichkeit oder Weiblichkeit zu entsprechen. Ein Klima, in dem wir den Grenzen Anderer mit Aufmerksamkeit und Respekt begegnen. In dem uns klar ist, dass es passieren kann, dass wir sie überschreiten, und sei es ungewollt. Und in dem es normal ist, das anzuerkennen und daraus zu lernen. Nur so können wir uns alle wirklich weiterentwickeln.

#metoo hat die Basis geschaffen, auf der wir weiter arbeiten können. Jetzt brauchen wir eine Strategie, die nicht auf individueller Schuld aufbaut, sondern auf kollektiver Verantwortung.

Der Artikel erschien ursprünglich auf www.supernovamag.de.

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