Völkerrechtlicher Schutz in Rojava nicht in Sicht

Die Berliner Hilfsorganisation CADUS musste aufgrund der Sicherheitslage und unklarer staatlicher Verhältnisse ihr internationales Personal aus Nordsyrien abziehen

  • Kristof Kietzmann und Jonas Grünwald von CADUS
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit Beginn der völkerrechtswidrigen Militäroffensive der Türkei gegen die kurdisch geführte Selbstverwaltung in Nordostsyrien sehen sich die türkische Armee und ihre syrischen Stellvertretermilizen dem Vorwurf einer massiven Eskalation in der Region ausgesetzt. Zu Recht. Als wäre die unprovozierte Invasion der Türkei als solche nicht schon verheerend genug, scheint Erdogan in seinem Kampf gegen »die Kurden« bisher fast jedes Mittel recht zu sein.

Dass Bombenabwürfe auf bewohnte Orte auch zivile Opfer fordern, ist in der traurigen Logik des Krieges bereits vorweggenommen. Unter diesen Umständen benötigen gerade diejenigen einen besonderen Schutz, die inmitten eines bewaffneten Konflikts medizinische Hilfe leisten, Verwundete oder Tote bergen. Das Konzept der Nothilfe für Zivilisten greift jedoch in Syrien seit Jahren immer weniger. Verstöße gegen die Genfer Konventionen sind auch in der jüngsten Eskalation im Nordosten des Landes quasi an der Tagesordnung. Aus eigener Anschauung und durch glaubwürdige Berichte unserer Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond können Angriffe auf medizinische Einrichtungen und Personal belegt werden. So wurden Ambulanzen des Kurdischen Roten Halbmonds auf dem Weg in die umkämpfte Stadt Ras al-Ayn/Serekaniye gezielt beschossen, um eine Versorgung Verwundeter zu unterbinden. Mit der Türkei verbündete Milizen griffen am 13. Oktober Mitarbeiter des lokalen Gesundheitsrates an - sie sind seitdem verschwunden.

Die türkische Armee verfügt seit Jahren über eine leistungsstarke Luftaufklärung durch unbemannte Drohnen. Daher grenzt es an Zynismus zu behaupten, Angriffe auf bekannte Krankenhäuser oder gekennzeichnete Ambulanzen seien ein Versehen. Erdogan provoziert mit diesen vorsätzlichen Brüchen anerkannter Kriegsregeln eine erneute humanitäre Katastrophe in der Region. Jetzt, wo seit der Übereinkunft zwischen Bashar al-Assad und der kurdisch geführten Selbstverwaltung alle NGOs ihr internationales Personal aus der Region abgezogen haben, entsteht gerade im medizinischen Bereich eine Lücke. Diese inmitten fortgesetzter Aggression und Angriffe zu füllen, überlastet die lokalen Partner.

Unsere gemeinsame Arbeit mit dem Kurdischen Roten Halbmond reicht zurück in das Jahr 2015. Am Anfang stand die Ausbildung von Ersthelfer*innen aus der Zivilgesellschaft, um die medizinische Versorgungssituation nach den Angriffen des Islamischen Staats und der al-Nusra-Front wieder stabilisieren zu helfen. Seit 2018 betreiben der Kurdische Rote Halbmond und CADUS eine Klinik in Rakka, dieses Jahr kam ein Feldkrankenhaus im al-Hol Camp hinzu. Neben der tagtäglichen Arbeit haben wir auf lokalen Wunsch hin auch immer wieder gemeinsame Trainings durchgeführt, damit die medizinische Versorgung auch unabhängig von unseren internationalen Teams fortgeführt und ausgebaut werden kann. Sich nun aufgrund der Sicherheitslage und unklarer Territorialherrschaft mit dem internationalen Personal zurückziehen zu müssen, schmerzt. Das Gefühl, gerade jetzt unsere lokalen Mitarbeiter*innen mit einer humanitären Katastrophe alleine zu lassen, ist definitiv da.

Bisher kommt aus der internationalen Staatengemeinschaft recht wenig an Substanziellem. Die angedrohten Stopps der Waffenlieferungen aus Europa betreffen eh nur zukünftige Deals. Im schlimmsten Fall stärken sie die türkische Waffenindustrie, während sie uns in Europa helfen, ein gutes Gefühl zu haben. Den Menschen vor Ort bringt das herzlich wenig. Die Einrichtung humanitärer Korridore, eine klare Ansage zur Einhaltung der Genfer Konventionen und eine empfindliche Sanktionierung bei belegten Brüchen durch die türkische Armee und ihre Verbündeten - das würde vor Ort helfen. Vom politischen Druck auf Erdogans Regierung, um eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern, ganz zu schweigen.

Allerdings ist bisher nichts davon geschehen. Ganz im Gegenteil, das Schicksal der Bevölkerung wurde diesen Dienstag in Sotschi entschieden - ohne Beteiligung Damaskus‘ oder gar der Selbstverwaltung. In Kolonialherrenart wird der Nordosten Syriens gemäß den eigenen Interessen aufgeteilt, Assad erhält die nominelle Kontrolle über diesen Landesteil zurück, während die Türkei das Recht zu Patrouillen auf zehn Kilometer Tiefe erhält. So weit war man bereits 1998 im Adana-Abkommen. Gestärkt werden damit primär Assad und Putin, Erdogan erringt einen Teilsieg. Verlierer ist die Zivilgesellschaft.

So bleibt solidarischen Helfer*innen wie uns erst einmal wieder nur, die Organisationen vor Ort weiter zu stärken, so lange es noch geht. Lokale Mitarbeiter*innen ihre Arbeit machen lassen und sie dafür auch zu bezahlen. Projekte in der Region nicht einzudampfen, sondern auszubauen. Angriffe auf medizinisches Personal, Zivilist*innen und medizinische Infrastruktur zu dokumentieren und in der Öffentlichkeit anzuprangern. Und schlussendlich als NGO weiter daran zu arbeiten, dass humanitären Akteuren so bald wie möglich ein gesicherter Zugang in die Region ermöglicht wird. Ob das zweifelhafte Abkommen zwischen Türkei und Russland von Dienstagabend die Situation entspannt, ist fraglich. Den Menschen in Rojava wäre es gewünscht.

CADUS ist eine humanitäre Hilfsorganisation mit Sitz in Berlin. Seit ihrer Gründung 2014 war sie in Syrien, dem Mittelmeer und der Ägäis, Irak und Bosnien tätig. Schwerpunkt der Arbeit ist die medizinische Nothilfe in Krisen- oder Kriegsregionen.

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