Der Ausschluss der anderen

Sabine Nuss blickt auf das moderne Privateigentum als eine »große Enteignung«.

Anstehen an der Supermarktkasse: Der Vater packt die Einkäufe auf das Band, seine kleine Tochter greift sich noch einen Schokoriegel aus dem Regal. »Leg das wieder zurück«, weist der Vater das Kind zurecht, »das gehört dir nicht.« Kinder müssen die Regeln des Privateigentums erst mühsam einüben. Dennoch gilt es als etwas zutiefst Menschliches. Umso aufgeregter wird die Debatte, wenn seine Geltung relativiert wird. Der Berliner Mietendeckel sei »ein Eingriff ins Privateigentum« der Vermieter, kritisiert das »Handelsblatt«. Angesichts einer Initiative zur Enteignung des Wohnungskonzerns Deutsche Wohnen fordert der Eigentümerverband Haus & Grund alle Bürger auf, »sich schützend vor das private Eigentum zu stellen«. Es den Menschen zu nehmen, weist laut dem Historiker Hubertus Knabe »den typischen Weg in die totalitäre Diktatur«.

Eigentum gilt als Garant der persönlichen Freiheit, als Menschenrecht, das sich von selbst versteht. Grund genug, sich die Sache genauer anzuschauen. Die Politologin Sabine Nuss hat das getan. In ihrem neuen Buch nimmt sie die gängigen Vorstellungen zum Privateigentum heutiger Prägung auseinander: dass es quasi natürlich sei, dass es notwendig sei und uns alle schütze, dass es Effizienz garantiere und seine Einschränkung geradewegs in die Unfreiheit führe.

Was Eigentum ist

Die meisten Menschen schätzen das Privateigentum. Sie sehen es als Verhältnis zwischen ihnen und ihrer Habe. Doch Eigentum ist mehr. Lebte man allein auf einer Insel, würde es keinen Sinn machen. Dem Eigentümer gewährt es die freie Verfügung über eine Sache, indem es alle anderen von der Nutzung dieser Sache ausschließt. Das lateinische »privare« bedeutet »abgesondert, getrennt«. Dieser Ausschluss anderer ist der Kern des Privateigentums. Es ist »keine Beziehung zu einer Sache, sondern eine Beziehung zwischen Menschen«, so Nuss.

Eigentum gilt als schützenswert, egal ob es sich um eine Wohnung oder einen Häuserblock handelt, um ein Auto oder eine Autofabrik. Doch sind dies ökonomisch sehr unterschiedliche Dinge. Wenn ich ein Auto habe, dann kann ich damit herumfahren. Wenn ich eine Autofabrik habe, dann stelle ich Dinge her, die ich gerade nicht benutzen will, die jedoch andere brauchen, von denen sie aber per Eigentum ausgeschlossen sind. Das eröffnet dem Eigentümer die Möglichkeit der Erpressung: Wer fahren will, muss zahlen. Wer nicht zahlen kann, hat verloren. Freiheit gewährt das Eigentum nur jenen, die es besitzen.

Das System des Privateigentums ist daher gekennzeichnet durch das besondere Nebeneinander von Reichtum und Mangel. Der Mangel ist kein natürlicher, sondern ein gesellschaftlich hergestellter: Die Dinge des Bedarfs sind da, aber den Bedürftigen entzogen. Von diesem Mangel lebt das heutige Wirtschaftssystem, und wo er nicht besteht, wird er produziert. Zum Beispiel bei geistig-kreativen Schöpfungen. Texte, Musik, Computercodes sind heutzutage per Digitalisierung beliebig vermehrbar, ohne Qualitätsverlust. Um sie zu Mitteln des Geschäfts zu machen, wird der Zugang zu ihnen mittels Patenten, Kopierschutz- und Zugangstechnologien beschränkt.

Was Eigentum war

Eigentum habe es schon immer gegeben, heißt es, es gehöre zum Menschen. Doch ist seine heutige Form eine sehr besondere. Bei den Inuit zum Beispiel ist Eigentum begrenzt durch die Notwendigkeit des Gebrauchs. Wer eine Sache nicht braucht, muss der Bitte eines anderen entsprechen, sie ihm zu leihen. In indianischen Gesellschaften war es laut Historikerin Stephanie Coontz gänzlich unvorstellbar, dass Nutzungsrechte, die der Bedürfnisbefriedigung dienten, verweigert wurden. Auch bei den Römern oder Griechen war das Eigentum enger an seinen Gebrauch gekoppelt. »Die Vernichtung von Nahrungsmitteln zum Zweck der Preisstabilisierung oder Häuser aus Gründen der Spekulation leer stehen zu lassen - selbstverständliche Phänomene der modernen kapitalistischen Welt - sind in solchen Gesellschaften nicht vorstellbar«, schreibt Nuss. Die Besonderheit des heutigen Privateigentums liegt also in der Radikalität der freien Verfügung, das heißt in der radikalen Trennung der Dinge von denen, die sie brauchen. Konsequenterweise steht heute selbst das Klauben von Nahrungsmitteln aus Müllcontainern der Supermärkte unter Strafe.

Die Geburt des Kapitalismus wie auch des modernen Privateigentums war laut Nuss gekennzeichnet durch etwas, das man »große Enteignung« nennen kann: Feudale Bauern wurden von ihren Feldern vertrieben, um Platz zu machen für profitable Viehzucht - ein Vorgang, der heute noch in vielen Ländern des globalen Südens zu sehen ist. Die ihrer Lebensgrundlagen beraubten Bauern zogen in die Städte und wurden zu Lohnarbeitern: Arbeitskraft und Boden wurden zu handelbaren Waren. Die Menschen arbeiteten zwar weiter an den Produktionsmitteln. Doch was sie herstellten, diente nicht mehr ihrer unmittelbaren Versorgung, sondern der Vermehrung des Eigentums der Fabrikbesitzer.

Wozu Eigentum motiviert

Gelobt wird das Privateigentum dafür, dass es die Menschen zur Leistung motiviert. »Wenn alles privatisiert ist, dann werden alle ein bisschen mehr Wurst bekommen«, zitiert Nuss die Hoffnungen des ersten Staatssekretärs des Moskauer Stadtkomitees der KPdSU Sergej Prokofjew, der seinerzeit für Entstaatlichung warb. Tatsächlich ist der Reichtum, der unter dem Regime des kapitalistischen Privateigentums geschaffen worden ist, unbestreitbar - zwar nicht in Russland, aber andernorts. Der gelobte »Anreiz« des Eigentums löst sich allerdings recht prosaisch auf: Für die meisten Menschen existiert er als Zwang, Eigentum zu erwerben, weil sie keines haben, also als Zwang zur Arbeit für einen Lohn, der am Monatsende aufgebraucht ist, was den Zwang zur Arbeit erneuert.

Den Ertrag dieser Arbeit, den Gewinn, reinvestieren die Unternehmen, um erneut Gewinn zu erzielen, und so weiter. Was Betriebe heutzutage anstreben und in ihren Büchern bilanzieren, ist ein Wachstum von Privateigentum, gemessen in seiner abstraktesten Form: Geld. Geld ist Eigentum an nichts Bestimmtem, potenziell allem, bemessen rein an seiner Quantität. Da es hierbei rein um Mengen geht - möglichst viel Geld oder Gewinn oder Umsatz -, kennt die kapitalistische Wirtschaft kein Maß, sondern nur ein Immer-mehr.

Die gerühmte Effizienz des Eigentums ist laut Nuss dementsprechend »eine historisch bestimmte, nämlich kapitalistische Effizienz«. Da es den Unternehmen um die Vermehrung ihres Kapitals geht - also um die Vermehrung von Reichtum, über den sie exklusiv verfügen -, sind sie entsprechend rücksichtslos gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Die Schädigung von Umwelt und Menschen muss daher durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt werden.

Die große Wiederaneignung

Die Autorin nutzt den ersten Teil ihres Buches, um Zweifel am Privateigentum zu säen - Zweifel, dass es das ist, wofür es gehalten wird, und dass es die Leistungen erbringt, die ihm zugeschrieben werden. Auf dieser Basis macht sie sich im zweiten Teil Gedanken über andere Formen des gesellschaftlichen Miteinanders, jenseits von Markt und Profit. Denn »es ist ein Armutszeugnis, wenn eine Gesellschaft von sich sagt, sie müsse die Organisation ihres gesellschaftlichen Lebens einem sich selbst regulierenden Mechanismus übertragen, weil sie es selbst nicht hinkriegt«.

Die Autorin spürt den »verborgenen Stätten der Kooperation« nach und leistet sich den Traum einer anderen Gesellschaft. »Die unmittelbaren Produzenten würden mittels demokratischer Aushandlung die Qualitäten und Quantitäten des Bedarfs ermitteln, Produktion und Konsum koordinieren und selbst organisieren, statt dies einem gegenüber Natur und Mensch blinden Mechanismus zu überlassen.« Die Dynamik des Wachstums um des Wachstums willen wäre durchbrochen.

Das wäre es dann wohl, das Einfache, das schwer zu machen ist. Enteignung allein reicht laut Nuss dafür allerdings nicht aus. Denn »die bloße Veränderung des juristischen Eigentumstitels, etwa die Verstaatlichung von Privateigentum, ist noch nicht die Lösung, wenn weiterhin das Ziel der Profitmaximierung verfolgt wird«.

Sabine Nuss: Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Karl Dietz Verlag Berlin, 136 S., br., 12 €.

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