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Mit Blankoscheck

Erdoğan setzt in Nordsyrien um, was die EU ihm 2016 erlaubte

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Kurdenmilizen in Nordsyrien wenigstens unterstützen den Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer. Obwohl dieser noch zur Diskussion stehe, »stimmen wir für unseren Teil zu«, zitierte die kurdische Nachrichtenagentur Hawar den Kommandeur der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), General Maslum Abdi. Die Kurden haben keine Wahl, und es wird niemanden interessieren, ob sie der deutschen Verteidigungsministerin und CDU-Chefin zustimmen oder nicht. Sie greifen, wieder einmal, nach dem letzten Strohhalm. Nachdem sie von den USA fallengelassen wurden, müssen sie froh sein, dass dank der Vereinbarung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin wenigstens die pure Vernichtung abgewendet scheint.

Mitleid ist auch nicht der Grund, der Annegret Kramp-Karrenbauer umtreibt und sie in Brüssel am Donnerstag bei ihren Amtskollegen aus den übrigen NATO-Staaten für eine internationale Schutzzone werben ließ. Abgesehen von den innenpolitischen Friktionen, die die CDU-Chefin damit in der Berliner Regierungskoalition ausgelöst hat, und der unausgereiften Form, die ihr Vorschlag bis heute hat, abgesehen auch von der Tatsache, dass eine internationale Unterstützung oder gar ein Beschluss des UNO-Sicherheitsrates wegen des Vetorechts Russlands nicht einmal im Ansatz erkennbar ist (warum sollte Putin seinen diplomatischen Erfolg mit Kramp-Karrenbauer teilen?) - so zeigt der Vorstoß der Ministerin doch Kalkül, das langfristig bedeutsam ist.

Erstens haben Teile der politischen Klasse in Deutschland inzwischen jede Scheu verloren, sich an die Spitze militärischer Konfliktlösungen in der internationalen Politik zu stellen. Die Bundesregierung vollziehe hiermit einen »Paradigmenwechsel der deutschen und der europäischen Außenpolitik«, freute sich der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des Bundestages, der CDU-Politiker Norbert Röttgen. »Wir handeln in unserem eigenen Interesse«, so Röttgen, der Kramp-Karrenbauers Vorstoß wie eine Befreiung aus der selbst auferlegten Zurückhaltung Deutschlands empfindet, wie man seinen Auftritten in öffentlichen TV-Debattenrunden entnehmen konnte.

Im eigenen Interesse handelte Deutschland jedoch auch schon vor dem Paradigmenwechsel der Verteidigungsministerin. Dieses Interesse selbst hat dazu geführt, dass die Türkei sich zu ihrem Vorgehen in Nordirak und Nordsyrien ermutigt sehen konnte. Und das ist das zweite strategische Bekenntnis, das dem Vorstoß Kramp-Karrenbauers zu entnehmen ist: Deutschland ist bereit, nach dem von Berlin maßgeblich ausgehandelten EU-Türkei-Deal von 2016 jede Art von Folgen mitzutragen. Nicht nur in Form der Milliarden, die der Türkei von der EU zur Verfügung gestellt wurden. Sondern auch, indem man den Schaden verwalten hilft, den Erdoğan bei seinem zerstörerischen Vorgehen anrichtet. Dass der Europa für erpressbar hält, kann man an seinen regelmäßigen Drohungen sehen, die 3,6 Millionen Flüchtlinge gen Westen zu schicken, die im Ergebnis des Deals in der Türkei gestrandet sind.

Kramp-Karrenbauer schlägt nichts weniger als die Absicherung der türkischen Invasion durch internationale Truppen vor, was dem ersten Völkerrechtsbruch einen zweiten hinzufügen würde, wenn es dafür kein UN-Mandat gäbe. Erdoğan kann sich nicht beklagen, von der EU im Stich gelassen zu werden, obwohl er es dauernd tut - nur weil sie sein rabiates Vorgehen missbilligt. Auch der als Verrat an den Kurden empfundene Abzug der US-Truppen aus Nordsyrien wäre aus völkerrechtlicher Sicht begrüßenswert, wenn er nicht im Angesicht der angekündigten Invasion der Türkei erfolgt wäre. Doch wie Röttgen sagte: Es geht um Interessen. Und so entsenden die USA nun Panzer zum »Schutz« syrischer Ölquellen in den Osten des Landes.

Im Deal der EU mit der Türkei selbst ist der Sprengsatz enthalten, der mit der türkischen Invasion in Nordsyrien nun detoniert ist. Erdoğan setzt die seither aufgenommenen Flüchtlinge so geschickt wie rücksichtslos für seine Pläne ein. Nicht zuletzt gegen die Kurden. Ein gewaltiger Bevölkerungsaustausch kündigt sich an. Vor seiner Reise nach Ankara am Samstag sprach Außenminister Heiko Maas (SPD) von 300 000 Menschen, die in Nordsyrien bereits die Flucht vor den türkischen Truppen ergriffen hätten. Und die EU hat hierfür ihr Okay gegeben. Unter Punkt 9 der EU-Erklärung vom 18. März 2016 heißt es: »Die EU und ihre Mitgliedstaaten werden mit der Türkei bei allen gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der humanitären Bedingungen in Syrien, hier insbesondere in bestimmten Zonen nahe der türkischen Grenze, zusammenarbeiten, damit die ansässige Bevölkerung und die Flüchtlinge in sichereren Zonen leben können.« Die Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl war es, die schon damals vor den Folgen warnte und die heutigen Entwicklungen voraussagte. »Die Türkei verfolgt mit allen Mitteln das Ziel, in sich zusammenhängende kurdische Gebiete zu verhindern. Es besteht die Gefahr, dass Flüchtlinge im Spiel regionaler militärpolitischer Interessen missbraucht werden und die EU damit die argumentative Basis für militärische Interventionen der Türkei liefert.«

»Der EU-Türkei-Deal hat Erdoğan einen Blankoscheck für den Einmarsch ausgestellt«, stellt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, angesichts der aktuellen Entwicklungen fest. Dass die deutsche Verteidigungsministerin von diesen überrascht wurde, ist leider nicht auszuschließen. Für die Bundesregierung und die übrigen EU-Länder gilt dies aber nicht. Recep Tayyip Erdoğan hat nie einen Hehl aus seinen Absichten gemacht. Zuletzt umriss er in einer Rede vor dem Parlament in Ankara die weiteren Ziele: Zwei Millionen Flüchtlinge wolle er in Nordsyrien ansiedeln. »Mit internationaler Hilfe« sollen dafür 140 Dörfer gebaut werden. Die Standorte stünden bereits fest. Die Türkei beabsichtige nicht, die 3,6 Millionen aufgenommenen Flüchtlinge »für immer zu beherbergen«.

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