»Wir müssen die Zersplitterung überwinden«

Steve Hudson vom Verein NoGroKo hofft bei der Stichwahl der Sozialdemokraten auf einen Sieg von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die erste Runde des SPD-Mitgliedervotums über ein neues Führungsduo ist gelaufen. Kritische Parteimitglieder setzten offenbar auf Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.

Auf jeden Fall. Bisher wurde das Zepter immer innerhalb des SPD-Establishments weitergereicht. Ein Bruch mit Fehlentscheidungen und Fehlentscheidern der Vergangenheit war damit ausgeschlossen. Daher hat NoGroKo immer die Urwahl gefordert. Das Duo Esken und Walter-Borjans an der Parteispitze wäre tatsächlich so ein Bruch. Als nordrhein-westfälischer Finanzminister hat Norbert Walter-Borjans beim Erwerb der Steuer-CDs Rückgrat bewiesen und dem Shitstorm des Mainstreams standgehalten. Inhaltlich beklagt er die krasse Umverteilung von unten nach oben unter Gerhard Schröder. Er ist damit der Anti-Scholz: ein erfahrener Minister, der zeigt: Eine andere Politik ist im Amt doch möglich.

Und was zeichnet Saskia Esken aus?

Im Bundestag hat sie gegen das Hau-Ab-Gesetz gestimmt. Sie positioniert sich vor allem gegen die Fortsetzung der Großen Koalition. Der Sieg dieses Duos in der Stichwahl wäre eine klare Niederlage für das Parteiestablishment und die einmalige Chance, sich von der verheerenden Politik der SPD seit dem einstigen Kanzler Schröder zu trennen. Wenn Olaf Scholz dagegen gewinnt, wird sich der Niedergang der SPD fortsetzen.

Ein deutscher Jeremy Corbyn, der die SPD stark nach links drückt, scheint aber nicht in Sicht.

Hilde Mattheis und Dierk Hirschel haben mit starken linken Positionen kandidiert, aber eine große Eintrittswelle wie bei Corbyn war trotz Urwahl leider nicht erkennbar. In Deutschland ist die linke Landschaft schwach, weil sie so zersplittert ist. Viele Linke sind in anderen Parteien, andere sehen in den Parteien keine Aussicht auf Veränderung. Labour unter Tony Blair stand viel weiter rechts als die SPD, ist aber die einzige ernst zu nehmende linke Partei in Großbritannien. Als Corbyn kandidierte, ist alles, was links war, in Labour eingetreten. Die Mitgliedschaft hat sich in einem Jahr auf über eine halbe Million verdreifacht, weil es eine klare Machtperspektive hin zu einer echten politischen Wende gab: Als Labour-Anführer ist Corbyn Premierminister in spe, und wir könnten binnen Monaten eine demokratische sozialistische Regierung in Großbritannien haben.

Sehen Sie den Durst nach einer radikalen Wende auch hierzulande?

Durchaus. Das zeigen der kurze Schulz-Hype Anfang 2017, der kurzfristige Zulauf für die Sammlungsbewegung Aufstehen 2018 oder die Klimastreiks 2019. Aber durch die Zersplitterung ist noch kein klarer institutioneller Pfad sichtbar, um diese Wende einzuleiten. Diese Zersplitterung müssen wir dringend überwinden, sonst ist nicht nur die SPD, sondern jede linke Hoffnung verloren.

Was könnte die SPD von Labour lernen?

Damals bei Labour wie noch heute bei der SPD gibt es eine monströse Kluft zwischen den Erwartungen und der Realität. Die »Wer hat uns verraten?«-Sprüche machen klar: Von der SPD erhofft man so viel mehr. Um diese Kluft wie bei Labour zu schließen, muss die SPD die Angst vor den Medien und Konzernen ablegen und darf sich nicht mehr fragen, ob sie wählbar ist, wenn sie dem obersten Prozent den Kampf ansagt. Das ist Alternativlosigkeit pur. Blair hat sich immer mehr nach rechts positioniert, um einige Tory-Stimmen zu gewinnen. In der heutigen Krise, wo es unseren Kindern allen eindeutig schlechter gehen wird als uns, führt dieser »Weg der Mitte« mit dem Weiter-so statt Hoffnung auf eine Wende in den Abgrund. Man kann viel mehr Stimmen gewinnen, indem man sich wie Labour eindeutig links positioniert und die konkrete Aussicht auf die Kanzlerschaft bietet, was in Deutschland fehlt.

Also Perspektive Rot-Rot-Grün?

Die SPD muss sich nicht nur für Rot-Rot-Grün öffnen, sondern die verlorenen Millionen der Arbeiterklasse wieder gewinnen, die alle Hoffnungen auf Verbesserungen im jetzigen Wahlsystem aufgegeben haben. Das sind überwiegend die prekär Beschäftigten, die Jugend, die Migrantinnen und Migranten. Dafür muss man die technokratische Sprache ablegen, sich radikal basisdemokratisch öffnen und aktiv die Stimmen von unten fördern.

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