»Rojava ist ein revolutionärer Bezugspunkt«

Michael Hellstein von »RiseUp4Rojava« sieht einen weltweiten Widerstand gegen den Angriffskrieg der Türkei

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 6 Min.

Seit dem Einmarsch der Türkei in Nordsyrien finden im Rahmen der Kampagne »Riseup4Rojava« fast täglich Proteste in Deutschland statt. Was gab es bisher an Aktionen?

In der ersten Woche nach der Invasion gab es drei Themenschwerpunkte für den Widerstand. Der erste zielte auf die deutsche Rüstungsindustrie, der zweite fand unter dem Titel »Helft der Presse« statt, bei dem dritten war das Ziel, unter dem Motto »Fridays for Peace« die aktuellen Umweltkämpfe mit den Anti-Kriegsprotesten zusammenzubringen. In der zweiten Woche galt es, Flugschalter von Turkish Airlines und anderen zu blockieren, die mit dem türkischen Staat in Verbindung stehen. Aktionen solcherart fanden etwa auch in Italien oder Griechenland statt.

Wie bewerten Sie die derzeitigen Proteste?

Überall auf der Welt gibt es derzeit koordinierten Widerstand gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei in Rojava – das ist der erste wirkliche Erfolg unserer Kampagne. Vielfach wurde es tatsächlich geschafft, staatliche Spaltungsversuche zu überwinden und eine Einheit von Kämpfen herzustellen. Darüber hinaus ist die internationalistische Beteiligung an den Aktionen in Deutschland gut. Sie liegt deutlich über dem Niveau des Widerstandes gegen die türkische Besatzung von Afrin im Frühjahr 2018. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich damals in fast allen deutschen Großstädten »Widerstandskomitees« gegründet haben, deren Organisierungsbemühungen jetzt Früchte tragen.

Was sind die »Widerstandskomitees«?

In den Widerstandskomitees kommen Einzelpersonen, linke Organisationen und die kurdische Bewegung zusammen, um eine gemeinsame wie politisch nachhaltige Praxis zu entwickeln. Diese soll nicht nur klassische Solidaritätsarbeit mit Rojava und Kurdistan umfassen. Wir wollen tatsächliche genossenschaftliche Beziehungen untereinander aufbauen, uns ideologisch mit der kurdischen Befreiungsbewegung auseinandersetzen und die Zusammenarbeit mit dieser stärken. Es reicht nicht, wenn wir nur sporadisch zu irgendeinem Anlass zusammenkommen oder uns in Texten aufeinander beziehen. Der Widerstand muss in eine organisierte Form überführt, der Bündnischarakter überwunden werden. Dies alles unter der Idee eines neuen Internationalismus, der die Verbindung von Chile in den Iran, von Chiapas nach Kurdistan, Palästina nach Berlin zieht.

Wie gut funktioniert die bisherige Zusammenarbeit?

Grundsätzlich sehe ich eine sehr große Wertschätzung füreinander. Zwischen »deutschen« Linken und der kurdischen Bewegung gibt es natürlich immer mal wieder Sprachbarrieren oder Differenzen bei praktischen oder ideologischen Fragen. Da gibt es sicher noch Luft nach oben. Das Verständnis, einen gemeinsamen Kampf zu führen, entwickelt sich aber stetig. Was die Zusammenarbeit der »deutschen« Linken untereinander angeht, habe ich das Gefühl, dass sich hier ein Spektren-übergreifender Querschnitt der gesamten linken Bewegung einbringt. Kein Wunder: Rojava ist aktuell einer der zentralen revolutionären Bezugspunkte für Linksradikale in ganz Europa. Viele Internationalisten haben sich an der Revolution beteiligt, viele wie zuletzt Konstantin aus Norddeutschland, Sara oder Jakob sind bei ihrer Verteidigung gefallen.

Bisher waren die Proteste von Aktionen des zivilen Ungehorsams geprägt. Wie zufrieden sind Sie mit dem Niveau der Auseinandersetzungen?

Unsere Kampagne hat die Leitlinie »Blockieren – Stören – Besetzen«, genau danach richten wir unsere Aktionen aus. Die Proteste waren daran gemessen bisher in vielen Fällen erfolgreich, aber der Druck muss noch mehr steigen, das Niveau des Widerstands noch wachsen. Über unsere Leitlinie hinaus begrüßen wir den gesamten Widerstand aller demokratisch-revolutionären Kräfte.

Werfen wir einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen in Rojava: Einige solidarische Internationalisten zeigen sich derzeit besorgt über die jüngst beschlossene militärische Zusammenarbeit der Selbstverwaltung und dem Assad-Regime. Droht die Revolution nun politisch erdrosselt zu werden?

Wie sich die Lage vor Ort konkret verändert, welche taktischen Rückzüge die Selbstverwaltung machen muss oder welche politischen Einschnitte der Autonomie es wirklich gibt, können wir von hier kaum erfassen. Ich vertraue darauf, dass die Selbstverwaltung und die nordsyrische Bevölkerung um ihre Errungenschaften wissen. Diese kann man nicht einfach wegwischen, oder wie ein Spielzeug ihr wegnehmen. Die Verbindung der Befreiungsbewegung mit der Bevölkerung vor Ort ist sehr stark. Die Menschen wissen, wofür sie kämpfen und es gibt ein großes Vertrauen der Bevölkerung in die eigene Stärke. Manchmal haben wir hier die Tendenz, diese Stärke zu unterschätzen.

Eine taktische Zusammenarbeit der Selbstverwaltung mit den USA, Russland und Assad, dazu Propaganda und Fakenews aus den verschiedensten Richtungen. Für manche radikale Linke in Deutschland scheint es mitunter schwer, sich mit ihren Positionen in der komplexen Widersprüchlichkeit in Syrien zurechtzufinden. Ist das überhaupt möglich?

Vieles von dem, was hier medial ankommt, darf auch nicht überbewertet werden. Manche Handlungen und Aussagen sind manchmal auch einfach nur Diplomatie und erst im Nachhinein verständlich. Worauf wir uns beziehen können, sind die Stellungnahmen aus der Bewegung. Und dort heißt es immer wieder, dass weder die USA noch eine andere internationale Macht im Interesse der lokalen Bevölkerung handeln. Uns ist klar, dass der Krieg in Rojava nur durch Widerstand gewonnen werden kann, und nicht, indem man sich auf irgendwelche staatlichen Akteure verlässt. Darauf vertrauen zu können, ist schwierig, denn in der deutschen Linken gibt es immer die reflexhafte Angst, auf der falschen Seite gestanden zu haben. Die Revolution hat aber bewiesen, dass sie eine eigene Stärke besitzt. Wir sollten den Fokus darauf legen, unseren Widerstand hier zu organisieren und dabei immer wieder die Lage neu bewerten.

Welche Rolle hat Deutschland in dem Konflikt?

Die aktuellen Ankündigungen, etwa Waffenexporte einzuschränken, sind nur Lippenbekenntnisse. Die Verbundenheit des deutschen Staates mit dem türkischen Staat reicht weit zurück, man kann praktisch von einer strategischen Waffenbrüderschaft sprechen. Auch wenn von Politikern öffentlich mitunter Widersprüche zur Befriedung der öffentlichen Meinung geäußert werden - die deutsche Industrie weiß, dass sie in der Türkei einen wertvollen Absatzmarkt hat. Die Türkei weiß, dass sie trotz allem in Deutschland einen verlässlichen Partner findet. Das hat erst wieder der jüngste Besuch des deutschen Außenministers Heiko Maas in der Türkei bewiesen. Die deutsche Regierung ist an dem türkischen Angriffskrieg beteiligt, genau wie deutsche Rüstungsunternehmen und das deutsche sowie türkische Kapital. Das sind alles Adressaten, gegen die sich unser Widerstand richtet.

Was ist von dem Vorschlag der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zu halten, die Bundeswehr in eine nordsyrische Schutzzone zu entsenden?

Dieser Vorschlag ist vollständig abzulehnen. Die »Sicherheitszone« wäre de facto ein NATO-Protektorat, in dem türkische und deutsche Soldaten einen syrischen Landstrich kontrollieren – über die Köpfe der lokalen Bevölkerung hinweg. Die NATO wird auch keinen humanitären Einsatz in Rojava durchführen, weil das nicht der Grund ist, wofür die NATO geschaffen wurde. Es braucht einen innersyrischen Dialog, um die Konflikte im Land zu klären. Also genau den Weg, der von der kurdischen Freiheitsbewegung immer wieder vorgeschlagen wird.

Was plant Ihre Kampagne als nächste Schritte?

Wir werden am 2. November um 12 Uhr am Alexanderplatz eine bundesweite Demonstration in Berlin durchführen. Wir rufen alle Freunde und Freundinnen auf, dort hinzukommen und den Widerstand gegen den türkischen Angriffskrieg in seiner Vielfalt abzubilden. Unser Kampf wird danach so lange weitergehen, bis die Besetzung von Rojava beendet ist und eine politische Lösung für den Konflikt zustande kommt.

Die Kampagne »RiseUp4Rojava« (Erhebt euch für Rojava) organisiert weltweit Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen den türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Michael Hellstein, Jahrgang 1987, ist einer der Pressesprecher für die Proteste in Deutschland. Er war selbst längere Zeit in Rojava. Mit dem Aktivisten sprach Sebastian Bähr.

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