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Insektensterben ist dramatischer als bisher vermutet
Studie dokumentiert Verluste von teils mehr als 60 Prozent in zehn Jahren
München. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Insekten in vielen Gegenden Deutschlands einer neuen Studie zufolge dramatisch gesunken. Wie die Technische Universität München (TUM) am Mittwoch mitteilte, stellte ein internationales Wissenschaftlerteam unter ihrer Leitung zwischen 2008 und 2017 Rückgänge von teilweise 40 bis mehr als 60 Prozent auf den untersuchten Flächen fest.
TUM-Professor Wolfgang Weisser bezeichnete die Ergebnisse der Langzeitstudie, die in der Fachzeitschrift »Nature« publiziert wurden, als »erschreckend«. Sie bestätigten die Befunde zahlreicher vorheriger kleinerer Forschungen, seien in diesem Ausmaß allerdings nicht erwartet worden.
Die Experten protokollierten über einen Zeitraum von zehn Jahren, wie sich der Insektenbestand auf 300 Flächen in den Bundesländern Brandenburg, Baden-Württemberg und Thüringen entwickelte. Dazu sammelten sie die Tiere und bestimmten die Biomasse. Sie untersuchten dabei 2700 einzelne Arten.
Insgesamt sank die Zahl der Arten auf Wiesen und Wäldern demnach jeweils um etwa 30 Prozent. Einige seltenere Arten von Insekten fanden die Forscher zuletzt gar nicht mehr.
Die Biomasse, die zugleich auch etwas über die Zahl der Insekten aussagt, ging in den Wäldern seit 2008 laut TUM um 40 Prozent zurück. Auf sogenanntem Grünland sank sie gar um zwei Drittel oder etwa 66 Prozent. Betroffen seien alle Flächen, selbst ungenutzte Wälder in Schutzgebieten.
Besonders gravierend sei die Entwicklung allerdings auf den häufig von Äckern umgebenen Grünlandflächen. »Dort litten vor allem die Arten, die nicht in der Lage sind, große Distanzen zu überwinden«, erklärte die Hochschule.
Im Kampf gegen das Insektensterben müsse viel stärker auf großflächige Gegenmaßnahmen gesetzt werden, betonten die Münchner Experten. Aktuelle Initiativen konzentrierten sich zu sehr auf die Bewirtschaftung von Einzelflächen. Es bedürfe einer stärkeren Koordinierung auf regionaler und nationaler Ebene, um diesen Rückgang aufzuhalten.
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace bezeichnete die Ergebnisse der Studie als »alarmierend«. Die Entwicklung sei Folge einer Agrar- und Waldpolitik, die ökonomische Interessen über den Natur- und Artenschutz stelle, teilte sie am Mittwoch in Hamburg mit. Sie forderte fundamentale Änderungen, etwa in der europäischen Agrarförderpolitik.
Grüne fordern Nothilfeprogramm
Die naturschutzpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Steffi Lemke, nannte die Forschungsergebnisse »dramatisch«. »Das Artensterben ereilt uns schneller als erwartet - die Biodiversität braucht ein Nothilfeprogramm«, erklärte sie. Doch die Bundesregierung packe die grundlegenden Probleme nicht an. »Die europäische Agrarpolitik als größter Hebel beim Schutz der Biodiversität bleibt unangetastet«, erklärte Lemke.
»Die Tiere verschwinden massenhaft aus unseren Wäldern«, warnte die Umweltorganisation Greenpeace. Deren Waldexperte Christoph Thies nannte das Insektensterben »die Folge einer Agrar- und Waldpolitik, die seit Jahrzehnten wirtschaftliche Interessen vor den Natur- und Artenschutz stellt«. Er forderte einen Umbau zu einer nachhaltigen Landwirtschaft. Ein Umsteuern bei der EU-Agrarförderung zugunsten von mehr Artenschutz verlangte der Umweltverband BUND.
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) kündigte an, sie werde die Studie »sehr genau prüfen«. Sie wies darauf hin, neben der Landwirtschaft gebe es für den Rückgang der Insektenpopulationen weitere Ursachen. AFP/nd
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