- Politik
- Neoliberalismus
Für einen Neuanfang in Chile
Friederike Winterstein begrüßt, dass das neoliberale System in Frage gestellt wird
Das Experiment ist aus dem Ruder gelaufen. Die chilenische Gesellschaft, Labor der neoliberalen Politik, explodiert. Dabei wird deutlich, dass das neoliberale System auf die gleiche Weise verteidigt wird, wie es in den siebziger und achtziger Jahren eingeführt wurde. Mit Waffengewalt.
Bislang war Chile Lateinamerikas neoliberaler Musterschüler. Staat und Gesellschaft sind stark durch die Weltanschauung der Chicagoer Schule geprägt. Das hat im Verlauf der letzten vierzig Jahre zu einer Privatisierung aller Bereiche des öffentlichen Lebens geführt. Der Staat lagert öffentliche Dienstleistungen an private Unternehmen aus, wandelt öffentliches Eigentum in Privates um, vergibt die Nutzungsrechte der natürlichen Ressourcen mit fast ewigen Laufzeiten an Großunternehmen, privatisiert den Zugang zu sozialen Rechten, wie Bildung, Gesundheit, Rente. Gleichzeitig zementieren absolut prekäre Arbeitsbedingungen, ein Mindestlohn unter der Armutslinie und ein regressives Steuersystem die Ungleichheit. Ein Prozent der Bevölkerung erhält aktuell 33 Prozent des Gesamteinkommens. Man fragt sich, wieso es nicht schon früher eine Explosion gab.
Eine Antwort könnte sein, dass nicht nur die Wirtschaftspolitik, sondern auch die Gesellschaft neoliberal geprägt ist. Der Terror der Diktatur (1973-1990) schien die Solidarität zerstört zu haben, es blieb eine Summe an Individuen. Jede*r kämpft für sich allein. Auch wenn das für die Mehrheit der Bevölkerung ein Leben wie im Hamsterrad bedeutet. Es wird unermüdlich gearbeitet und sich bis ans Lebensende verschuldet, damit es für das Mindeste zum Leben reicht, um die Arztrechnung zu bezahlen, um den Kindern ein Studium zu ermöglichen, um materiellen Konsum und die damit verbundene Anerkennung zu ermöglichen.
Die sozialen Bewegungen der letzten Jahre zielten darauf ab, das Bildungs- oder Rentensystem zu verändern. Aber nie das System als Ganzes. Die Kriminalisierung dieser Bewegungen, die Gewalt gegen friedliche Demonstrationen, auch das wurde nicht hinterfragt, war zur Norm geworden. Bis jetzt.
Es war nie Depression, sondern Kapitalismus, steht nun an den Hauswänden. Nicht du als Einzelne*r hast versagt, unter den gegebenen Bedingungen hattest du nie eine Chance. Der gesunde Menschenverstand der Gesellschaft ist erwacht, die Bedingungen werden hinterfragt. Das geht notwendigerweise mit einer politischen Krise einher. Die Legitimität der Regierung, des politischen Establishment, wird hinterfragt. Denn sie sind es, die den Status Quo aufrecht erhalten.
Nun bröckelt also der gesellschaftliche Konsens, der Staat betreibt eine extreme Nutzung seines Gewaltmonopols, die Proteste auf den Straßen halten dennoch an. All dies bedeutet noch lange keine Übertragung in strukturelle Veränderungen. Die Proteste können mindestens so lange von Polizei und Militär in Schach gehalten werden, bis es erste Sanktionen der UN wegen Menschenrechtsverletzungen gibt.
Glücklicherweise gehen die Forderungen weiter als nur den Rücktritt des Präsidenten und einen Regierungswechsel zu verlangen. In aller Munde ist die Notwendigkeit einer neuen Verfassung, die die 1980 von Diktator Augusto Pinochet unterzeichnete ablöst.
Diese neue Verfassung ist es, die den Anfang vom Ende des neoliberalen Systems bedeuten kann. Die Diskussion dreht sich nun sowohl um mögliche Formen, wie diese neue Verfassung erarbeitet wird, als auch um die Inhalte. Wenn die Linke es schafft, diese Diskussion in progressive Wege zu leiten und die neue Verfassung die Basis für eine gerechtere Gesellschaft darstellt, wäre dies ein Lichtblick für den ganzen Kontinent.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!