Kühler Kopf im heißen Derby

Während der 1. FC Union die Stadtmeisterschaft feiert, schießen die Fans von Hertha BSC gefährliche Eigentore

Das Stadtderby zwischen dem 1. FC Union Berlin und Hertha BSC wird nicht nur Berlin noch etwas länger beschäftigen. Die erste Begegnung der beiden Klubs in der Bundesliga hatte so viel Gesprächsstoff geliefert, dass schon die Aufarbeitung in der Alten Försterei am Sonnabend sehr viel mehr Zeit in Anspruch nahm als gewöhnlich. Aber es war ja auch in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Fußballspiel.

Als letzter Spieler kam Sebastian Polter, um über das gerade Erlebte zu sprechen. Als er die ersten Antworten gab, platzte Mannschaftskollege Grischa Prömel dazwischen: »Eine Frage noch: Wann ist mit dir zu rechnen?« Es war der einzige Moment, in dem Polter überlegen musste und unkonkret blieb. »Mal seh’n«, sagte er. Die Ungeduld war ihm anzumerken - natürlich wollte er schnellstmöglich weiterfeiern, diesen 1:0-Sieg seines 1. FC Union Berlin gegen den Stadtrivalen Hertha BSC. Vorgeglüht hatten sie ja auch schon bei dröhnender Musik in der Kabine. Polter blieb aber noch lange stehen.

Der 28-Jährige konnte die ganze Geschichte eines aufregendes Abends erzählen - weil er in nur einem Spiel so viel erlebt hatte, wie viele in ihrer ganzen Karriere nicht. »Natürlich will ich auch von Beginn an spielen«, sagte er, »aber das entscheidet der Trainer.« Bislang stand der kantige Stürmer in der Bundesliga noch nicht in Unions Startelf. Mit einem strammen Schuss aus elf Metern wurde er elf Minuten nach seiner Einwechslung in der 76. Minute zur Vereinslegende, Derbyheld sowieso. Und das ist keineswegs übertrieben formuliert. Allein die mediale Aufregung in den Tagen vor dem Anpfiff spricht dafür. Auch, dass eine überdimensionale Choreographie der Union-Fans dieses Spiel als »größte Schlacht« bezeichnete. Der erstmalige Aufstieg in die Bundesliga wurde immerhin noch mit dem »Fußballolymp« verglichen.

»Oben links, oben links, immer wieder oben links« - diese zwei Worte schossen Polter minutenlang durch den Kopf. Nachdem Schiedsrichter Deniz Aytekin nach dem ungestümen Einsteigen von Herthas Verteidiger Dedryck Boyata gegen Christian Gentner ohne zu Zögern auf den Elfmeterpunkt gezeigt hatte, wurde noch der Videobeweis bemüht, »um alle Zweifel auszuräumen«, wie Aytekin erzählte. Während dieser quälenden Zeit der Ungewissheit, die die überhitzte Atmosphäre auf den Rängen noch verstärkte, stand Polter scheinbar kühlen Kopfes und den Ball schon in der Hand allein im Strafraum. »Ich weiß vor jedem Spiel, wohin ich einen Elfmeter schieße«, verriet er. Oben links schlug der Ball ein.

Noch vor allen Spielern erschien Deniz Aytekin in der Interviewzone. Alltäglich ist auch das nicht. Aber auch der Schiedsrichter hatte einen ungewöhnlich schweren Arbeitstag. Zweimal musste er die Partie unterbrechen und die Mannschaften vom Feld führen - weil immer wieder Leuchtraketen aus dem Gästeblock abgefeuert wurden. Die meisten Geschosse landeten auf dem Spielfeld. Die Absurdität dieser Aktionen beschreibt am besten, dass einige Raketen direkt neben Hertha-Spielern einschlugen. Vollkommen verrückt ist es, brennend heiße Leuchtgeschosse auf voll besetzte Tribüne abzufeuern. Aber auch das ist mehrmals geschehen. Bislang wurden zwei Verletzte gemeldet, ein Union-Fan und ein Zivilbeamter der Polizei. Für Aytekin geht damit das Derby in die Verlängerung: »Es müssen jetzt viele Berichte geschrieben werden.« Und der Schiedsrichter dankte ausdrücklich der Polizei, mit der er »in Absprache gemeinsam entschieden« habe, das Spiel nicht abzubrechen. So wurde vielleicht eine weitere Eskalation verhindert.

»Ich habe nach dem Spiel erfahren, dass eine Rakete direkt neben meinen Kindern und meiner Freundin gelandet ist«, erzählte Polter. Die Kinder wollten danach nicht mehr auf die Haupttribüne und haben das Spiel vor einem Bildschirm weiter verfolgt. »Nein, alles gut, nichts passiert.« Es lag sicherlich viel Erleichterung in Polters Worten. Allemal erstaunlich ist sein differenzierter Blick auf das Geschehene. »Pyro gehört für mich irgendwie zum Stadtderby dazu, wenn man es sicher abbrennt«, sagte er über die vielen roten Fackeln im Union-Block und die weißen im gegnerischen. Aber es gäbe auch immer Idioten, die das kaputtmachen.

Der ganz große Jubel ließ nach dem Abpfiff noch etwas auf sich warten. Von erneuten Raketen aus dem Gästeblock ließen sich einige vermummte Union-Ultras derart provozieren, dass sie über den Zaun kletterten und irgendwas, irgendwie auf ihre Weise klären wollten. Weit kamen sie nicht. Weil sich Sebastian Polter und vor allem Torwart Rafal Gikiewicz ihnen in den Weg stellten - trotz drohender Fäuste. »Es ist auch unsere Verantwortung, unsere Fans vor Dummheiten zu beschützen«, sagte Polter bemerkenswert beherrscht und sprach über »Zusammenhalt im Verein«. Zusammen wurde danach gefeiert, mit einer langen Nacht in Köpenick. Und immer wieder wurde dieses eine Lied gesungen: »Stadtmeister, Stadtmeister, Berlins Nummer eins.«

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