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- Hartz-IV-Sanktionen
»Ich erwarte, dass nach dem Urteil nichts mehr ist wie es war.«
Der Sozialaktivist und Sachverständige Harald Thomé erklärt, was die Sanktionspraxis im Hartz-IV-System bedeutet und warum diese abgeschafft gehört
Donnerstagmittag im Loher Bahnhof in Wuppertal. Das alte Bahngebäude dient seit einigen Jahren dem Erwerbslosenverein »Tacheles« als Zentrum. Im gemütlichen Café ist es voll, an verschiedenen Tischen sitzen Berater und Hartz-IV-Empfänger zusammen und sprechen darüber, wie mit diesem oder jenem Schreiben umgegangen werden kann. Einer von ihnen ist Harald Thomé, er hat den Verein vor 25 Jahren mitgegründet. Am Dienstag fährt er wieder nach Karlsruhe, um zu sehen wie das Bundesverfassungsgericht über die Sanktionen entscheidet. Bei der mündlichen Verhandlung im Januar vertrat er als Sachverständiger die Auffassung, dass alle Sanktionen fallen müssen.
Tacheles gibt es seit 25 Jahren, warum habt ihr euch gegründet?
Tacheles wurde vor über 25 Jahren gegründet. Wir machen diese Arbeit aufgrund unserer politischen Überzeugung. Nach der es die Aufgabe eines jeden Menschen ist, gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung vorzugehen und für eine bessere, solidarische Welt, sowie für Menschenrechte einzustehen. Das ist auch mein persönliches Motiv! Tacheles e.V. wurde als Reaktion auf die verheerenden Brandanschläge von Solingen und Mölln gegründet. Wir haben damals überlegt, was wir gegen diese damalige rassistische Mobilisierung und gegen Nazis unternehmen können, und im Ergebnis dieser Überlegung stand das Projekt Tacheles. Ziel war es, mit Rat und Tat den Menschen konkret zur Seite zur stehen und eine politische Interessensvertretung zu schaffen und mit praktischer Arbeit zu überzeugen und sich den Rassisten entgegenzustellen.
Wie sah die Beratung in der Anfangszeit aus?
Der Verein hat klein angefangen und ist in den Jahren sehr gewachsen. Begonnen hat es an meinem Küchentisch, in der Luisenstraße, bis jetzt im Loher Bahnhof. In einer großen Küche, mit einem Riesentisch und zwischen schreienden Kindern haben wir mit der Beratung angefangen. Unsere Tätigkeit hat sich dann schnell rumgesprochen und wir haben Räumlichkeiten gesucht und gefunden. Mit Café und Kneipenbetrieb konnten wir dann die Beratung quer finanzieren.
Wie organisiert ihr die Beratung?
Die Beratung ist jetzt komplett ehrenamtlich strukturiert. Wir haben ein wechselndes Team, im Moment knapp 10 Leute, die an zwei Tagen in der Woche Beratungen durchführen. Pro Tag kommen etwa 20 Menschen, die Rat suchen und finden. Die werden von mehreren Teams beraten. Es ist eine angeleitete Sozialberatung, in der die Kolleg*innen jederzeit die Möglichkeit haben, sich Rat und Unterstützung zu holen. So schaffen wir es, neue Leute zu integrieren und gleichzeitig hohe Fachlichkeit sicherzustellen.
Woraus besteht eure Arbeit konkret?
Die Arbeit bei Tacheles umfasst drei Bereiche: Die konkrete Sozialberatung vor Ort. Das bedeutet, dass wir seit 25 Jahren Menschen beraten, die in existenzielle Not geraten sind, und ihnen erklären, wie sie ihre Interessen gegenüber Sozialbehörden vertreten können. D.h. aber auch, dass wir Widersprüche, Anträge und alles andere was notwendig ist, schreiben. Die sozialpolitische Arbeit, kommunal und überregional, ist die Organisation und Beteiligung an Kampagnen, Arbeitsgruppen und Zusammenschlüssen zur Verbesserung der Lage finanziell schwacher Menschen und zur Verteidigung ihrer demokratischen Rechte. Wir beteiligen uns am Gesetzgebungsverfahren, schreiben Fachstellungnahmen, werden zu Anhörungen eingeladen, vernetzen uns mit anderen Stellen, Verbänden und Organisationen.
Wir veröffentlichen aktuelle Fachinformationen in Form von wöchentlichen Newslettern, agieren in sozialen Medien, betreiben eine Internetseite und geben ein bzw. »das« Ratgeber-Buch zu Hartz IV und Sozialhilfe heraus. Aktuell ist im März dieses Jahres die 30. Auflage erschienen. Aktive des Vereins wurden als Sachverständige zu Bundestagsanhörungen geladen und sind jetzt - hoffentlich erfolgreich – am Sanktionsverfahren beim Bundesverfassungsgericht als vom Gericht erklärter sachverständiger Dritter beteiligt.
Was für Leute beraten bei euch?
Weil die Beratung unter der Woche stattfindet, fallen Menschen, die im Erwerbsleben stehen, oft raus. Wir haben gerade ein buntes Team. Einmal die alten Hasen, Frank Jäger und ich. Aber auch eine bunte Truppe weiterer engagierter Menschen, so ein ehemaliger Ministerialmitarbeiter, ehemalige Jobcentermitarbeiterinnen, eine Gewerkschaftsaktive, ein pensionierter Anwalt, ein Mieterverein-Engagierter, zwei Sozialarbeiter, ein Journalist, ein ins SGB II reingestolperter Jurist mit erstem Staatsexamen, eine ehemalige Jobcentermitarbeiterin, die vom Jobcenter Wuppertal zu uns gewechselt ist und ihre Anwaltskanzlei im Hause aufgemacht hat. Alles Menschen, denen es wichtig ist, eine behördenunabhängige und parteiische Beratung zu stärken und zu stützen und für eine bessere, solidarische Welt, sowie für Menschenrechte einzustehen.
Einige Berater*innen haben selbst schon Sozialleistungen und auch Hartz IV bezogen, sie wissen daher genau, was Hartz IV heißt, wie es sich anfühlt, von diesen Hungerlöhnen leben zu müssen. Es sind Menschen mit ganz unterschiedlichen Biographien, die Bock auf Beratung haben.
Neben der Beratung haben wir eine Vielzahl von anderen Menschen im Vorder- und Hintergrund des Tacheles, die diese Arbeit erst möglich machen. In der Gesamtheit sind wir ein Trupp von knapp 20 guten Seelen, die diese Arbeit auf unterschiedlichsten Ebenen tragen und stützen.
Beratung vor und seit den Hartz-Gesetzen: Was hat sich geändert?
Die Hartz-IV-Gesetze bedeuten einfach Armut für die Menschen, es wird bewusst unterfinanziert, die Leistungsbeziehenden als Schmarotzer dargestellt und von der Verwaltung und der Öffentlichkeit unter Generalverdacht gestellt. Das jetzige System baut auf »Verfolgungsbetreuung« auf. Bedrohen, Strafen, Sanktionieren. Alle paar Jahre kommen Rechtsverschärfungsgesetze, mit denen an den kleinen Stellrädchen weiteres Sonderrecht zu Lasten der Leistungsberechtigten gedreht wird. Frau Nahles hat sich da als Arbeitsministerin besonders unangenehm hervorgetan.
Das ganze Hartz-IV-System führt bei vielen zum kompletten gesellschaftlichen Rückzug, bisher vorhandene soziale Strukturen zerbrechen, die Menschen schämen sich für ihre Situation. Es führt dazu, dass sie von Staat und Gesellschaft enttäuscht werden und sind, und empfänglich für rassistische Parolen und Verschwörungstheorien werden. Der Aufschwung der Rechten ist ein Ergebnis der Agenda 2010. Das Klima ist spürbar rauer geworden. Das war aber auch erklärtes Ziel der Agenda-2010-Strategen, so lassen sich die Menschen besser als billige Arbeitskraft ausplündern.
Das Bundesverfassungsgericht hat euch als Sachverständigen im Verfahren um die Hartz-IV-Sanktionen benannt. Was habt ihr dem Gericht vorgetragen?
Im ersten Schritt sollten alle Beteiligten eine Stellungnahme abgeben. Daraus ist dann eine 80-seitige Expertise geworden, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die SGB-II-Sanktion in keinem einzigen Fall rechtlich zulässig sein können. Zum gleichen oder ähnlichen Ergebnis sind die meisten Wohlfahrts- und Sozialverbände, der DGB und der Deutsche Anwaltsverein gekommen, die sich ebenfalls deutlich gegen die bisherige Sanktionspraxis positioniert haben. In Vorbereitung der mündlichen Verhandlung am 15. Januar dieses Jahres hatte das Verfassungsgericht einen umfassenden Fragenkatalog eingereicht. Tacheles hat ausgehend von den Gerichtsfragen eine Onlineumfrage zu den Folgen und Wirkungen der Hartz-IV-Sanktionen gestartet.
Wie war die Resonanz?
Wir hatten mit 3.000 bis 4.000 Antworten gerechnet. Tatsächlich haben sich daran über 21.000 Menschen beteiligt. Damit konnten dem Verfassungsgericht dezidiert die Folgen und Wirkungen der Hartz-IV-Sanktionen aufgezeigt werden. An der Umfrage haben sich rund 17.000 Leistungsbeziehende, rund 3.500 Sozialarbeiter*innen und Anwälte*innen und rund 1.500 Jobcentermitarbeiter*innen beteiligt. Aus meiner Sicht ist das ein Schatz aus Erfahrungen und Bewertungen und für uns auch ein Mandat, das wir nach Karlsruhe mitnehmen konnten.
Ein zweiter Teil war ein freies Textfeld, in dem die Leute dem Gericht ihre Erfahrung mitteilen konnten. Auch darauf gab es 6.000 Rückmeldungen. Das haben wir dem Gericht separat vorgelegt, und damit nicht mehr über die von Sanktionen Betroffenen gesprochen, sondern sie in das Verfahren einbezogen. Ich gehe davon aus, dass die Richter*innen davon einiges mit Interesse gelesen haben, denn das waren authentische Schilderungen darüber, was die Sanktionen mit den Menschen machen.
Warum war das wichtig für den Prozess?
Das Gericht wollte Zahlen haben und Wirkungen erläutert bekommen. Die Bundesregierung hat im Gerichtsverfahren mit falschen Zahlen operiert, versucht die »Sanktionsquote« kleinzureden, 3,1 Prozent war die Aussage im Gerichtsverfahren, in der Realität war sie fast 9 Prozent viel höher. Die Bundesregierung konnte nichts an Material dazu vorlegen, wieviel Menschen durch Sanktionen obdachlos gemacht wurden, den Strom verloren haben, verschuldet sind. Noch nicht einmal die Anzahl der Lebensmittelgutscheine konnte die Regierung benennen. All das sind aber zentrale Informationen.
Grundsätzlich sind im juristischen Denken im Verfassungsrecht Grundrechte einschränkbar, aber das muss dezidiert begründet werden. Hier hat die Regierung faktisch nichts vorgelegt, noch nicht einmal im Nachspann zur Verhandlung. All diese Dinge konnten wir mit der Onlineumfrage konkret belegen, Wirkung und Folgen der Sanktionen, und dass sie von 86,9 Prozent aller Befragten als »nicht für geeignet« gehalten werden, um eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten.
Worum ging es bei der Verhandlung noch?
Darum, ob Sanktionen gegen das Recht auf Berufsfreiheit verstoßen. Fast 80 Prozent der Befragten sehen durch die Sanktionsandrohung eine konkrete Disqualifizierung für ihren weiteren beruflichen Werdegang. Somit stellt das Sanktionsregime einen Verstoß gegen die Berufsfreiheit dar, also der nächste Verfassungsbruch.
Was wird in dem Urteil entschieden?
Formell geht es um eine 60-prozentige Sanktion eines über 25-jährigen. Das Gericht wird zu entscheiden haben, ob die nach Ansicht des Verfassungsgerichts »unverfügbaren« (Anmerkung der Red.: d.h. für das Jobcenter nicht antastbaren) Regelleistungen zum Zwecke der Sanktionen verfügbar gemacht werden können.
Was erwarten Sie?
Ich erwarte, dass nach dem Urteil nichts mehr ist wie es war. Bundesarbeitsminister Heil hat schon bei der Verhandlung im Januar gesagt, dass er kein Problem damit hat, die Sanktionen, die Wohnungen betreffen, und die Sondersanktionen für unter 25-jährige aufzugeben. Da weiß die Bundesregierung, dass es sowieso kippen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat schon zweimal entschieden, dass das Existenzminimum nicht unterschritten werden darf. Deswegen rechne ich damit, dass es eine deutliche Verbesserung geben wird.
Wie könnte das aussehen?
Das Gericht hat mehrere Optionen. Es könnte eine Anordnungsverfügung treffen und das Sanktionsrecht, ganz oder teilweise, außer Kraft setzen. Eine andere Alternative wäre es, dass das Gericht der Bundesregierung eine gewisse Zeit einräumt, die Sanktionen anzupassen. Das wäre die schlechtere Option. Aus der Gesamtbewertung des Verfahrens ist aber damit zu rechnen, dass mindestens Teile des Sanktionsrechts außer Kraft gesetzt werden. Danach wird es eine große Debatte darüber geben, wie es mit Hartz IV weitergeht.
Wie geht es dann weiter?
Die großen Felder sind neben den Sanktionen die deutlich zu geringen Regelleistungen im ALG II, in der Sozialhilfe und im Asylbewerberleistungsgesetz. Die deutlich zu geringen Stromkosten, die ja noch im Regelbedarf enthalten sind, und der Komplex der erheblichen Unterfinanzierung in den Unterkunftskosten. Das ist alles nicht bedarfsdeckend ausgestaltet. Und das sind die großen Kampfgebiete, die in den nächsten Jahren anstehen. Es gibt noch verdammt viel zu tun, gegen Ausbeutung und Rassismus vorzugehen, für eine bessere, solidarische Welt, sowie für Menschenrechte einzustehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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