Rechtes Terrorpotenzial

Bundesregierung: »Bürgerwehren« seit 2017 achtmal Thema in Abwehrzentrum

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 3 Min.

14. September 2018. Eine Gruppe extrem rechter Männer betritt die Chemnitzer Schlossteichinsel. Die selbst ernannte »Bürgerwehr« trägt Einheitskleidung, die Männer sind mit Quarzhandschuhen, Glasflaschen und Elektroschockern bewaffnet. Auf dem öffentlichen Platz werden vermeintliche Migranten angegriffen, einem 26-jährigen Iraner wird eine Platzwunde am Kopf zugefügt. Die Bundesanwaltschaft wirft fünf der an dem Angriff Beteiligten vor, mit der rechtsterroristischen Gruppe »Revolution Chemnitz« am 3. Oktober 2018 Anschläge geplant zu haben, um die Regierung zu stürzen. Laut den Ermittlern war der 14. September ein »Probelauf«.

Selbst ernannte »Bürgerwehren« sind in der extremen Rechten kein neues Phänomen. Die Gruppe »Steeler Jungs« in Essen, die NPD mit ihren »Schutzzonen«, die AfD oder auch die Kleinstparteien »Dritter Weg« und »Die Rechte« nutzten das Konzept, in der Vergangenheit ebenso wie die rechtsterroristische »Gruppe Freital« oder die NSU­-Vorgängerorganisation »Thüringer Heimatschutz«. Laut dem Soziologen Matthias Quent vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft habe diese Aktionsform seit 2016 zugenommen.

Auch die Bundesregierung sieht nun bei selbst ernannten Bürgerwehren »Ansätze für rechtsterroristische Potenziale«. Achtmal sei das Phänomen in den vergangenen zwei Jahren Thema im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum der Sicherheitsbehörden gewesen, heißt es in der Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion, die »nd« vorliegt. Bei allen bekannten Bürgerwehren »bestehen tatsächliche Anhaltspunkte für eine rechtsextreme Einflussnahme oder Dominanz«.

Der Übergang von der Bürgerwehr »hin zu einem eigenmächtigen Eintreten für Sicherheit und Ordnung abseits des staatlichen Gewaltmonopols oder gar hin zu einem gewalttätigen Handeln« sei fließend, schreibt das Ministerium. In fast allen Bundesländern existierten mittlerweile entsprechende Gruppen. Über Mitgliederzahlen der Bürgerwehren oder Teilnehmer an Patrouillen machte es keine Angaben. Die einzige bundesweit agierende Bürgerwehr-Organisation »Soldiers of Odin Germany« verfügt den Angaben zufolge über Unterabteilungen in fast allen Bundesländern.

Die »Bürgerwehren« gehörten laut der Antwort nicht der Polizei an und »haben keine Befugnisse als andere Bürger«, insbesondere »keine polizeilichen«. Ob und inwieweit es Kooperationen zwischen Polizeibehörden und Bürgerwehren auf lokaler Ebene gebe, sei nicht bekannt.

Die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion Ulla Jelpke zeigte sich angesichts der Aussagen besorgt. »Die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch solche Zusammenschlüsse scheint tatsächlich erheblich zu sein«, erklärte die Abgeordnete gegenüber »nd«. Die Politikerin erwarte daher, dass mit »allen zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln« gegen solche selbst ernannten Bürgerwehren aus Neonazis und rechten Hooligans vorgegangen werde. »Es darf nicht hingenommen werden, dass aufgrund der öffentlichen Präsenz solcher Schlägertrupps Angstzonen für Andersdenkende oder Migranten geschaffen werden.«

Bürgerwehren berufen sich in der Regel auf das Jederman-Festnahme-Recht. Jeder Bürger hat demnach das Recht, Menschen, die man auf frischer Tat bei einer kriminellen Handlung ertappt, bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten. Auf bloßen Verdacht hin oder gar vorbeugend darf man jedoch niemanden festsetzen. Solch ein Vorgehen kann schnell die Tatbestände der Nötigung, Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung umfassen.

»Vor allem für Akteure aus der rechtsextremen Bewegung ist es auch längerfristig attraktiv, ihre Aktivitäten als Bürgerwehr und Heimatschutz zu etikettieren, um sozialer Ächtung zu entgehen sowie ihre Ideologie und Gewaltaffinität zu rechtfertigen«, erklärte Matthias Quent in einer Broschüre der Amadeu Antonio-Stiftung. »Umso wichtiger sind klare Distanzierungen der Sicherheitsbehörden und verantwortlicher Politiker«, führte der Experte weiter aus.

Im Jahr 2016 konnten sich einer YouGov-Umfrage zufolge 29 Prozent der Deutschen vorstellen »in einer Bürgerwehr mitzumachen, die auch mit körperlicher Gewalt ihre Interessen schützt, wenn der Staat es nicht tut«.

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