Enterbt Karlsruhe Gerhard Schröder?

Das Bundesverfassungsgericht urteilt an diesem Dienstag darüber, ob Hartz-IV-Sanktionen verfassungsgemäß sind

  • Alina Leimbach
  • Lesedauer: 4 Min.

»Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen«, gab im Jahr 2003 der damalige SPD-Kanzler Gerhard Schröder seine Maxime für die künftige Arbeitsmarktpolitik vor. Dieses Bild wurde 2002 und 2003 in Gesetze gegossen, die »Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, besser bekannt als die Hartz-Gesetze. Gerade Hartz IV ist heute der Inbegriff des Erbe Schröders. Das Ziel: Menschen so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt bringen, zu jedem Preis. Um den Druck aufzubauen, brauchte es insbesondere eines: deutlich ausgeweitete Sanktionsmöglichkeiten im letzten Auffangnetz der Grundsicherung.

15 Jahre nach der Einführung von Hartz IV könnte dieses Kernstück der Agendapolitik nun nachträglich kippen - und zwar höchstrichterlich. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe urteilt an diesem Dienstag, ob Hartz-IV-Sanktionen verfassungsgemäß sind.

Anlass dafür war der Fall des Erwerbslosen Daniel R., der einen Job in der Logistik abgelehnt hatte. Er habe dem Jobcenter mehrfach klargemacht, dass er eine Beschäftigung als Verkäufer anstrebe, so liest es sich im Beschluss des Sozialgerichts Gotha. Die Folge: Zwischen Juli und August 2014 wurde er für dieses Verhalten bestraft - drei Monate lang wurde ihm seine Grundsicherung um 30 Prozent gekürzt. Ein eklatanter Einschnitt, bei der damaligen Regelsatzhöhe von 391 Euro waren das ganze 117,30 Euro weniger. Danach hatte R. noch einmal eine weitere Anweisung des Jobcenters nicht befolgt. Dafür hagelte es sogar eine 60-prozentige Sanktion, 234,60 Euro monatlich weniger, wieder für drei Monate.

Das Sozialgericht Gotha hatte daraufhin das Verfassungsgericht angerufen, weil es Zweifel daran hatte, dass diese Regelsatzkürzungen mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sind. Das Gericht zeigte sich überzeugt: Die Sanktionen »verstoßen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, gegen die verfassungsrechtlich garantierte Berufsfreiheit und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit«.

Schon bei Meldeversäumnissen winken derzeit Kürzungen über zehn Prozent von der Grundsicherung- immerhin 42 Euro weniger bei einem Regelsatz von gerade einmal 424 Euro. Die Grundsicherung kann heute nach drei Verstößen komplett gestrichen werden, inklusive Wohnkosten und Krankenversicherung. Bei Personen unter 25 Jahren geschieht dies sogar schon beim zweiten Mal. Einen Ermessensspielraum oder Härtefallregelungen gibt es nicht für Jobcentermitarbeiter*innen.

Der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof, Wolfgang Neškovic, glaubt, dass Sanktionen nicht mit dem Grundgesetz im Einlang stehen: »In der 2010er Entscheidung zum Recht auf Existenzminimum erklärte das Bundesverfassungsgericht, dass der gesetzliche Leistungsanspruch ›stets‹ den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers decken muss«, sagte Neškovic dem »nd« im Januar. Er wies zudem darauf hin, dass die Verfassungsrichter*innen 2010 zudem geurteilt hatten, dass das Existenzminimum »unverfügbar« sei und eingelöst werden müsse. Kürzungen an diesem Existenzminimum sind demzufolge nicht zulässig.

Allerdings gibt es in der Verfassungsrechtspraxis verschiedene Denkschulen, die Richter*innen in Karlsruhe werden zudem von politischen Parteien ernannt und stehen diesen auch in Teilen nahe. Üblich ist daher bei der Entscheidungsfindung eine Art Kompromiss. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2010 bei seiner Entscheidung zur Regelsatzhöhe zudem womöglich eine kleine Hintertür der Politik offen gelassen. In der Begründung von damals hieß es, das Existenzminimum sei zwar unverfügbar, bedürfe aber »der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber«.

Im Fall der Sanktionen geht eine überwiegende Mehrheit der Beobachter*innen jedoch davon aus, dass die Richter*innen mindestens einen Teil der Sanktionen als nicht verfassungsgemäß kippen dürften. »Was ich realistisch hielte: Zumindest eine Entschärfung der Sanktionen bei Menschen, die jünger als 25 sind und keine Kürzung mehr bei den Mietkosten. Sowie die deutliche Aufforderung des Bundesverfassungsgericht, dass dieses Urteil sofort umzusetzen ist und keine Kann-Bestimmung enthält«, sagte die frühere Arbeitsvermittlerin und Hartz-IV-Kritikerin Inge Hannemann dem »nd«. Auch der Sozialrechtsexperte Harald Thomé betonte gegenüber »nd«: »Aus der Gesamtbewertung des Verfahrens ist damit zu rechnen, dass mindestens Teile des Sanktionsrechts außer Kraft gesetzt werden.«

Vor allem aber weist Hannemann auf die Konsequenzen für die Politik hin: »Weiterhin hat vermutlich das Urteil zur Folge, dass das Arbeitsministerium endlich reagieren muss. Warme Worte sind danach von denen vermutlich nicht mehr möglich.«

Die SPD hat ihre Position zu den Sanktionen mittlerweile leicht korrigiert. Sie will die schlimmsten abschaffen, im Kern jedoch am System der Strafen festhalten. Konkrete Änderungen sind aber nicht erfolgt. »Die SPD fordert schon lange: Unwürdige Sanktionen gehören abgeschafft, was die Union aber bisher immer verweigert hat. Wir sind zuversichtlich, dass uns das Bundesverfassungsgericht Recht gibt«, sagte Kerstin Tack, sozialpolitische Sprecherin der SPD im Bundestag.

Katja Kipping, Parteivorsitzende der LINKEN und sozialpolitische Sprecherin der Fraktion im Bundestag, sagte demgegenüber »nd«: Egal wie das Urteil am Dienstag ausfalle - »ein Gerichtsurteil ersetzt nicht den politischen Kampf gegen die Hartz-IV-Sanktionen«. Sie werde nicht ruhen, bis Hartz IV überwunden ist durch gute Arbeit und soziale Garantien.

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