Eine versteckte Sensation

Wolfgang Hübner über das ’89er »ND« und die Grenzöffnung

Heute wäre alles anders. Würde heute jemand mitten in Berlin eine Mauer hochziehen, um die Stadt zu teilen (wir müssen dieses Beispiel so konstruieren, weil es ja keine Mauer mehr gibt) - würde also wer auch immer versuchen, die politische und Lebenswirklichkeit drastisch und dauerhaft zu verändern, dann würden wir Reporter losschicken, die sich das ansehen und darüber berichten. Sofort, unverzüglich. Jede Redaktion würde das tun.

Vor 30 Jahren, als die Mauer fiel (und zwar nicht ganz ohne Vorgeschichte, denn schon seit Tagen hielten sich Menschenmengen und Fernsehteams auf beiden Seiten der Grenze auf), vor 30 Jahren geschah das nicht so. Jedenfalls nicht beim »Neuen Deutschland«. Beim damaligen Organ des Zentralkomitees der SED kam niemand auf die Idee, am Abend des 9. November 1989, nachdem Günter Schabowski den Beschluss zur Öffnung der Grenze verkündet hatte, für einen aktuellen Bericht von den Grenzübergangsstellen zu sorgen. Die Redaktion hatte vollauf damit zu tun, quadratmeterweise Seiten mit Reden vom allerneuesten Plenum des Zentralkomitees zu füllen. Das allerdings - angesichts der dramatischen Lage in der DDR - weit weniger langweilig-routiniert ablief als ansonsten üblich. Im Bericht über Schabowskis Pressekonferenz wurde die Grenzfrage sehr weit hinten erwähnt - verschämt, unvollständig und fast unsichtbar.

Die Grenzübergangsstellen wurden spätabends geöffnet, nach chaotischen Stunden das Wartens. Die DDR-Zeitungen nahmen es am nächsten Tag kaum bis gar nicht zur Kenntnis. Am übernächsten Tag, dem 11. November, auf ND-Seite 1: die Fernsehansprache des Innenministers zu den neuen Reiseregelungen in vollem Wortlaut und eine kurze Bildnachricht vom Grenzverkehr. Auf der letzten Seite eine kurze Reportage. Das Weltereignis als Nebensache. Es war der Versuch der Redaktionsleitung und ihrer Parteiaufpasser, die entfesselte politische Dynamik tunlichst kleinzureden. Die Vorsicht gegenüber dem Unerwarteten. Und das Unvermögen, journalistisch eigenständig und kreativ zu reagieren.

Die Verhältnisse haben sich geändert; die deutsche Einheit ist indessen keineswegs vollendet. Auch nicht in der Politsymbolik. Vor zehn Jahren schrieb der damalige nd-Chefredakteur Jürgen Reents, es sei an der Zeit, bei künftigen Jubiläumsfeierlichkeiten jene nicht zu vergessen, die dazu beitrugen, dass die Wende »zum friedlichen Ereignis wurde«: Egon Krenz, Hans Modrow, den Grenzoffizier Harald Jäger, Michail Gorbatschow und andere. Von solchen Einladungen ist nichts bekannt. Insofern ist noch immer nicht alles anders als vor 30 Jahren.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.