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Vereint in Unzufriedenheit
In Irak protestieren Menschen aller Glaubensrichtungen.
Seit Wochen zieht es die Demonstranten zur »Grünen Zone«. Man muss sich dieses Areal im Stadtzentrum von Bagdad vorstellen wie eines jener durch Zäune und Wachmänner abgeschotteten Wohnviertel am Rande einer von Armut, Obdachlosigkeit und zerbröselnder Infrastruktur geplagten Stadt in den USA. Mit einem Unterschied: In der »Grünen Zone« sind nicht die Schönen und Reichen untergekommen, sondern ausländische Diplomaten und fast die gesamte irakische Politik.
Hier und auf den Plätzen des Landes versammeln sich die Demonstranten, konfrontiert mit einem gigantischen Aufgebot an Militär und Milizen, die sich unter dem Namen »Volksmobilisierungskomitees« (VMK) zusammengeschlossen haben. Und man muss, wenn man kann, nur ein paar Blicke in die »Grüne Zone« werfen, um zu verstehen, worum es den Demonstranten geht.
Auf ihrer Seite der Absperrungen herrschen Zerfall und Korruption. Die Infrastruktur ist marode, Entführungen, Drogenhandel, Morde sind an der Tagesordnung. Die Polizei setzt dem wenig entgegen: Im August entkamen 15 Untersuchungshäftlinge, denen Drogenhandel vorgeworfen wird, aus einem Bagdader Gefängnis. Auf einem in sozialen Netzwerken verbreiteten Video ist zu sehen, wie die Männer in Zivilkleidung ohne Gegenwehr durch den Vordereingang rennen. Als Reaktion ließ die Regierung Polizisten feuern, womit sie allerdings auch den Unmut der Öffentlichkeit befeuerte. Denn unter den Entlassenen waren auch jene, die sich der Bekämpfung von Korruption verschrieben hatten. Aus den Daten des Obersten Gerichtshofes ergibt sich, dass sechs Polizisten allein innerhalb eines Jahres 1283 Haftbefehle wegen Korruption oder häuslicher Gewalt beantragt und erhalten hatten. Mehr als 500 davon betreffen Beamte, Richter, Politiker.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Absperrungen zur »Grünen Zone« folgt das Leben anderen Regeln: Diplomaten aus den Staaten der EU sprechen oft davon, man müsse Fluchtursachen bekämpfen, und wenn Regierungschefs und Minister aus der Heimat vorbeikommen, werden oft Projekte und finanzielle Hilfen angekündigt, die aber stets nur in homöopathischen Dosen gewährt werden. In der Zone zu Hause sind auch ausländische Privatunternehmen, gut dotiert mit Aufträgen der US-Regierung: Es geht um den Wiederaufbau von Mossul, einst eine der größten Städte des Landes. Mehr als zwei Jahre ist es her, seit Militär und Milizen die Region vom »Islamischen Staat« zurückerobert haben. Doch der Wiederaufbau der zum großen Teil zerstörten Stadt kommt nicht in Gang.
Wie oft Regierungsmitglieder das Land außerhalb der »Grünen Zone« bereisen? Laut Saad Maan, Sprecher des für den Personenschutz zuständigen Innenministeriums, ist das wohl selten der Fall, aus Sicherheitsgründen. Regierungschef Adil Abdul al Mahdi habe seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr die »Grüne Zone« nicht ein einziges Mal verlassen. Auch ausländische Diplomaten wagen sich selten nach draußen.
Regierung schaltet Internet ab
Die Macht aus der »Grünen Zone« geht massiv gegen die Proteste vor: Seit Anfang Oktober wurden mehr als 270 Menschen getötet und Tausende durch Schüsse und Tränengas verletzt. Vergangenen Mittwoch ordnete al Mahdi zwar an, künftig keine scharfe Munition mehr zu verwenden. Doch laut Rotem Halbmond wurde auch am Donnerstag in mehreren Städten scharf geschossen
Längst spielt es bei den Demonstrationen keine Rolle mehr, ob jemand Schiit, Sunnit oder Kurde ist. Denn alle haben die gleichen Probleme, auch wenn sich die Forderungen von Ort zu Ort unterscheiden, um sich dann, so weit man das in der unübersichtlichen Lage überblicken kann, wieder an einem Punkt zu vereinen: Die Regierung müsse zurücktreten und das politische System vollständig reformiert werden. Insbesondere die jungen Iraker können nichts anfangen mit den traditionellen Strukturen, in denen die Macht zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden aufgeteilt ist. Sie schauen auf die Proteste in Ländern wie Ägypten und Libanon, und sie hören von geflohenen Freunden und Angehörigen, wie Politik und Verwaltung in Europa funktionieren.
Gespalten ist auch die Medienlandschaft: Während lizenzierte Zeitungen, Radio- und TV-Sender trocken darüber berichten, welcher Politiker gerade was gesagt oder getan hat und welcher Vertrag gerade worüber abgeschlossen worden ist, sagen Blogger und Poster in sozialen Netzwerken frei heraus, was sei denken. Und sie finden Gehör: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter 35 Jahre alt, die Internetnutzung ist in den Städten weit verbreitet.
Viel geschrieben, gesprochen und gesendet wird über den iranischen Einfluss auf Politik, Wirtschaft, und vor allem auf die VMK-Milizen. Die beiden größten Fraktionen im Parlament stehen Iran zumindest nahe; einige der VMK-Milizen pflegen enge Kontakte zu den iranischen Revolutionsgarden, wobei sich dies auch sehr schnell ändern kann: Während der Mossul-Offensive ließ man sich durchaus auch von der US-Regierung aushalten. In der Öffentlichkeit ist die Forderung weit verbreitet, den Einfluss der VMK massiv einzuschränken. Offiziell stehen sie unter dem Oberbefehl des Regierungschefs; tatsächlich gibt es aber deutliche Anzeichen dafür, dass diese Gruppen weitgehend ihre eigenen Ziele verfolgen und dabei die Proteste als Bedrohung sehen.
Mittlerweile wurde das Internet in weiten Teilen des Landes einfach abgeschaltet, und für Innenministeriumssprecher Saad Maan liegt der Grund dafür klar auf der Hand: »Es gibt zu viele Fake News.« Tatsächlich lassen sich viele der Informationen in diesen Blogs und Posts ebenso wie ihre Urheber nicht prüfen. Und auch in der Öffentlichkeit werden Vorbehalte laut: Einige jener Blogger, die am heftigsten gegen Iran wettern, sind erst vor Kurzem aufgetaucht, und immer wieder wird vermutet, die saudische Regierung versuche, Einfluss in Irak zu gewinnen. Denn immer wieder hatte US-Präsident Donald Trump in den vergangenen Jahren gefordert, Irak möge doch seine Probleme durch eine stärkere Anbindung an Saudi-Arabien lösen.
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