Seit 7. Oktober 2023: Wegen Israel-Kritik gecancelt

Künstler*in moniert Antisemitismus-Beschuldigung, propalästinensische Gruppe sieht »Zensur«

Die Ausstellung »HeARTs of Gaza« mit Kinderzeichnungen konnte weder in Erfurt noch in Hamburg gezeigt werden.
Die Ausstellung »HeARTs of Gaza« mit Kinderzeichnungen konnte weder in Erfurt noch in Hamburg gezeigt werden.

Die Schelling Architektur Stiftung hat der britischen Künstler*in James Bridle einen mit 10 000 Euro dotierten »Theoriepreis« wenige Tage vor der Verleihung in Karlsruhe entzogen. Der Grund ist Bridles Unterzeichnung eines offenen Briefs, der zum Boykott israelischer Kulturinstitutionen aufruft, wenn sich diese nicht klar gegen eine Unterdrückung von Palästinenser*innen positionieren.

Die Stiftung beruft sich bei ihrer Entscheidung auf »die nationale Geschichte Deutschlands und der sich daraus ergebenden Verantwortung«. In einer E-Mail an Bridle nahm sie außerdem Bezug auf die jüngst beschlossene Bundestagsresolution »Nie wieder ist jetzt«, berichtet der »Guardian«. Diese untersagt staatliche Unterstützung für Organisationen, die Israels Existenzrecht infrage stellen oder Boykottaufrufe unterstützen. Bridle bezeichnete die Rücknahme als implizite Antisemitismus-Beschuldigung und verwies auf die NSDAP-Vergangenheit des Stiftungsgründers Erich Schelling. Die Stiftung warf Bridle daraufhin »Gesprächsverweigerung« vor.

Ebenfalls diese Woche teilte die Leitung des Altonale Kunstherbstes in Hamburg in sozialen Medien mit, dass die geplante Ausstellung »Hearts of Gaza« mit Zeichnungen von Kindern aus Gaza nicht stattfindet. Man habe damit eigentlich auf das Schicksal von Kindern hinweisen wollen, »die am Entstehen von Kriegen keinerlei Schuld haben – egal, auf welcher Seite des Konfliktes sie stehen«, heißt es in dem Posting des Festivals. Nach intensiver Überlegung habe man aber entschieden, die Ausstellung abzusagen, »um keiner Seite oder politischen Initiative die Möglichkeit zu geben, den Kunstherbst politisch zu instrumentalisieren«. Das Zimmer, in dem die Kinderbilder aufgehängt werden sollten, bleibe deshalb leer.

Die Unternehmerin Jenny Havemann schrieb zu der Absage auf X: »Gemeinsam haben wir es geschafft!!!« Die auch als proisraelische Aktivistin bekannte Havemann hatte zuvor behauptet, das in einer Zeichnung erwähnte Wort Genozid sei »ein antisemitisches Narrativ und eine Lüge«. Eine andere Zeichnung spreche Israel das Existenzrecht ab, da diese »auf der gesamten Karte Israels eine palästinensische Flagge gemalt zeigt«. Im Oktober hatten Havemann und eine Antifagruppe bereits dafür gesorgt, dass »Hearts of Gaza« in einem Gebäude der Stadt Erfurt untersagt wurde. Die veranstaltenden Gruppen »Erfurt Unsilenced« und »Jena für Palästina« kritisierten das als »Zensur«.

Die Fälle aus Karlsruhe, Hamburg und Erfurt sind bei weitem nicht einzigen, in denen Personen und Organisationen, die sich solidarisch mit Palästinenser*innen zeigen oder Kritik an der israelischen Politik äußern, in Deutschland unter Druck geraten. Am vergangenen Wochenende hat das propalästinensische »Archive of Silence« eine Liste mit fast 200 Fällen veröffentlicht, in denen Menschen nach dem 7. Oktober 2023 in Deutschland von geplanten Veranstaltungen oder Sendungen ausgeladen wurden, Räume für Ausstellungen und Theatervorführungen verloren haben oder von Behörden verfolgt wurden. Der Fall von James Bridle ist derzeit der letzte Eintrag auf dieser Liste.

Viele der dokumentierten Vorfälle beruhen auf Medienberichten, andere auf Aussagen von Betroffenen. Oft sind dies Menschen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit oder Jüd*innen. Ihnen wird von den Absagenden einseitige Israel-Kritik, fehlende Distanzierung von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober, Verständnis für den bewaffneten palästinensischen Widerstand oder schlicht Antisemitismus vorgeworfen.

Zu den Betroffenen gehörten beispielsweise die Rapperin Nura, die Künstlerin Candice Breitz, der Journalist Malcolm Ohanwe, die Autorinnen Adania Shibli und Deborah Feldman, die Politiker Jeremy Corbyn und Bernie Sanders oder die Organisationen Jüdische Stimme und Forensic Architecture. Es gibt auf der Liste aber auch zahlreiche bislang weniger bekannte Ereignisse.

In einigen der 200 Fälle hatte zuvor die Deutsch-Israelische Gesellschaft in sozialen Medien oder gegenüber der Presse auf eine Absage oder Ausladung gedrungen. Die Lobbyorganisation sei »der Auffassung, dass Antisemitismus von Demokrat*innen und demokratischen Institutionen, akademischen und kulturellen Einrichtungen nicht ohne Widerspruch hingenommen werden sollte«, erklärte ein Sprecher dem »nd«.

Kritiker wie Wolfgang Kaleck, Gründer und Vorsitzender des in Berlin ansässigen European Center for Constitutional and Human Rights, sehen in den vielen Vorfällen hingegen einen Beleg, dass sich Deutschland »ohne Not und ohne Nutzen« international isoliert. »Ein Jahr nach dem Massaker der Hamas und dem andauernden Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Gaza sollten sich differenzierte Positionen heraus gebildet haben«, sagte Kaleck zu »nd«.

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