Kiew: Irgendwie überleben

Die Menschen in Kiew schauen mit Sorge auf den dritten Kriegswinter

  • Bernhard Clasen, Kiew
  • Lesedauer: 5 Min.
Seit über 1000 Tagen leidet die ukrainische Bevölkerung wie hier in Kiew unter Russlands Angriff. Der bevorstehende Winter und die Energieprobleme könnten ihre Lage nochmals verschärfen.
Seit über 1000 Tagen leidet die ukrainische Bevölkerung wie hier in Kiew unter Russlands Angriff. Der bevorstehende Winter und die Energieprobleme könnten ihre Lage nochmals verschärfen.

Vor Hunden habe ich mich mein ganzes Leben gefürchtet. Mit Schrecken erinnere ich mich an einen Augenblick in Kiew, kurz nach Kriegsbeginn, im März 2022, als ich auf meinem Fahrrad von einem Rudel Hunde verfolgt wurde und ich nur deswegen schneller war als sie, weil es bergabwärts ging. Im Februar, kurz nach dem russischen Einmarsch, hatten viele Ukrainer fluchtartig ihre Wohnungen in Kiew verlassen – und ihre Hunde oftmals sich selbst überlassen. Und diese Hunde bildeten Rudel, versetzten die wenigen Fußgänger und Fahrradfahrer in Angst und Schrecken. 

In den letzten Tagen nehmen die russischen Luftangriffe auf Kiew wieder zu. Und so kam es, dass ich mich mit einem Hund anfreundete. Als es wieder einmal donnerte, dass die Scheiben wackelten, stand er vor der Haustüre, zitternd und mit bittendem Blick, als wollte er sagen: »Lass mich rein, ich brauche Schutz vor den Drohnen und Raketen.« Und ich habe ihn hereingelassen, habe meine Angst vor Hunden vergessen. 

Immer, wenn es wieder einmal kracht, gehe ich an eine Stelle im Gang der Wohnung, an der die Wände so dick sind, dass das Telefon keinen Empfang hat. Doch immer, wenn es kracht, ist dieser Platz schon besetzt. Von einer ängstlichen Katze. Woher nur kann sie wissen, dass das der sicherste Platz in unserer Wohnung ist? 

Wer Fronturlaub haben will, besticht den Kommandeur

Oles, der eigentlich anders heißt, geht den ganzen Tag in seiner Kampfuniform durch die Straßen von Kiew. Er hat Fronturlaub. Und er macht einen Arztbesuch nach dem anderen. Im Kampf hatte er sich eine leichte Verletzung zugezogen. Die will er nun in Kiew auskurieren. Mindestens vier Monate werde das in Anspruch nehmen, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Aber so eine Verletzung ist doch in ein paar Tagen behandelt«, meint sein Gesprächspartner. »Stimmt«, räumt er ein. Aber er habe mit seinem Kommandeur vereinbart, dass er ein bisschen länger bleiben dürfe. Umgerechnet 2500 Euro erhält er jeden Tag, wenn er an der Front kämpft, nur 500 Euro hingegen, wenn er sich im Hinterland aufhält. Sein Kommandeur hat ihn nicht als fehlend gemeldet, streicht also die verbleibenden 2000 Euro, die Oles bei einem Frontaufenthalt zustehen, offensichtlich selbst ein.

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Oles hat keine Angst vor den Angehörigen der gefürchteten TZK. Das ist die Behörde, die Männer auf der Straße aufgreift und direkt zur mehrwöchigen Grundausbildung schickt, bevor es dann in den Krieg geht. Seine Papiere sind ja in Ordnung. 

Von der Straße direkt an die Front

Anna, auch sie heißt in Wirklichkeit anders, hat da weniger Glück. Ihr Freund ist eines Abends von der Arbeit in Kiew nicht zurückgekommen. Seitdem, und das ist zwei Monate her, hat sie ihn nicht mehr gesehen. Er hat sich von einer Armeeeinheit gemeldet. Inzwischen ist er an der »Null«, wie man in der Ukraine die Front nennt. Neuerdings hat sie eine Untermieterin in seinem Zimmer. Alleine kann sie als Arzthelferin die Miete nicht stemmen.

Anna stammt aus einer Ortschaft mit 200 000 Einwohnern. »Jede Woche kommen fünf Männer in Särgen von der Front zurück«, berichtet sie. In der Provinz sei die Zahl der Zwangsrekrutierungen deutlich höher als in Kiew. In kleinen Ortschaften, so meint sie, könne man sich eben nicht so gut verstecken. Sie will nur eines: dass der Krieg endlich aufhört. Nein, unter russischer Herrschaft wolle sie nicht leben. Aber noch schlimmer sei es, den Krieg noch ein paar weitere Jahre ertragen zu müssen. Und so hofft sie auf Trump. Schlimmer könne es ja nicht mehr kommen.

Enttäuscht von Wolodymyr Selenskyj

Von Präsident Wolodymyr Selenskyj, den sie selbst gewählt hatte, ist sie enttäuscht. »Er hatte damals im Wahlkampf nur Russisch gesprochen und gesagt, dass er für einen Frieden sogar bereit sei, mit dem Teufel zu reden.« Doch jetzt, so sagt sie mit Bedauern ob ihrer Stimme für Selenskyj bei den Präsidentschaftswahlen von 2019, könne er sich an seine Versprechen von damals nicht erinnern. 

Aktuell ermittelt die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft in 95 000 Fällen wegen Fahnenflucht und unerlaubten Fernbleibens von der Truppe, berichtete der ukrainische Dienst der BBC am 18. November unter Berufung auf die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft. Das sind zehn Prozent der in die Armee Einberufenen. Die tatsächliche Zahl dürfte darüber liegen. Soldaten wie Oles kommen in dieser Statistik gar nicht vor. 

In der Ukraine wächst die Angst vor dem Winter

In der Ukraine wächst die Angst vor dem kommenden Winter. Und die jüngste Entscheidung westlicher Staaten, Raketenangriffe auch auf russisches Gebiet zuzulassen, beunruhigt manche. »Die können gut reden in Washington, Paris und London«, schimpft Anna. »Die müssen ja nicht mit der russischen Reaktion auf ihre Entscheidung leben. Aber wir wissen: Jetzt wird für uns in den ukrainischen Städten das Leben noch schwerer werden.« 

Jeder versucht auf seine Weise zu überleben. Wer aktuell eine Wohnung in Kiew sucht, dem fällt auf, dass vor allem Wohnungen in höheren Stockwerken angeboten werden, während solche im Erdgeschoss rar sind. Klar. Bei Einschlägen leiden vor allem Bewohner höherer Stockwerke. Beliebt sind auch Wohnungen im Zentrum der Stadt, am besten in Nachbarschaft zu einer Botschaft. Die Russen werden ja wohl kaum eine Botschaft angreifen, ist man sich sicher. Wer sich das nicht leisten kann, sucht sich eine Wohnung in einem Haus mit Tiefgarage. 

Inzwischen nähern sich die Temperaturen in Kiew dem Gefrierpunkt. Leichter wird es in den nächsten Wochen und Monaten nicht werden.

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