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Ein Kiez wird zum Drachen
Widerständiger Laternenumzug gegen Verdrängung vereint die solidarische Nachbarschaft
»Kiezdrache, werde wach!«, rufen und singen Kinder und Erwachsene am Abend am Heinrichplatz in Kreuzberg. Nach Gesang und kollektivem Schlüsselklimpern wachen endlich die Drachen auf. Es sind zwei, auf Stäben getragen von Helfer*innen, bunt leuchtend in wechselnden Farben. Laut den Organisator*innen von Bizim Kiez sind Hunderte Menschen zum fünften widerständigen Laternenumzug gekommen, darunter viele Kinder mit Laternen in der Hand.
Zu den Drachen gibt es inzwischen auch eine Geschichte: Über sie wurde ein Märchen geschrieben. Es handelt von Verdrängung im Kiez und einer solidarischen Nachbarschaft, die sich gemeinsam dagegen zur Wehr setzt. Das Märchenbuch, das eigentlich während des Umzugs unter die Leute gebracht werden sollte, ist jedoch nicht rechtzeitig aus der Druckerei gekommen. »Von den 500 Exemplaren, die wir haben drucken lassen, sollte heute schon etwa die Hälfte weggehen«, zeigt sich Philipp Vergin von Bizim Kiez enttäuscht. Umso mehr freut er sich über die rege Beteiligung.
Die Route des Umzugs gegen Verdrängung führt an vielen bedrohten Projekten in Kreuzberg vorbei, zum Beispiel den Häusern 10 und 11 in der Lausitzer Straße und der Kneipe »Meuterei«, deren Räumungsklage am 12. Dezember verhandelt wird. Auch andere Projekte kommen zu Wort. Eines davon ist die Boxfabrik des Vereins SC Lurich 02. Den Sportverein gibt es in Kreuzberg schon seit 1902, nun ist das Trainingsobjekt akut bedroht. »Der Eigentümer hat unseren alten Pachtvertrag gekündigt und will für einen neuen Vertrag 50 Prozent der Nettokaltmiete des alten Mietpreise mehr haben«, sagt Vereinsmitglied Lorena auf der Zwischenkundgebung. Das sei aber für den Verein unbezahlbar. Zurzeit würden noch Verhandlungen mit der Gewerbesiedlungs-Gesellschaft (GSG) Berlin laufen, der das Haus gehört. »Wir sind kein Unternehmen, das Gewinn macht, sondern ein gemeinnütziger Verein«, sagt Lorena. »Die GSG ist sich ihrer sozialen Verantwortung für den Kiez nicht bewusst«, kritisiert sie.
Unterwegs stellen sich viele weitere Projekte vor. Die Gruppe »OraNostra« zum Beispiel hat sich zusammengeschlossen, um sich als Gewerbemieter*innen gegenseitig zu unterstützen. Das ist bitter nötig, denn der Berliner Mietendeckel begrenzt zwar die Wohnungsmieten, nicht jedoch die Gewerbemieten. Unter deren immensen Steigerungen leiden laut »OraNostra« sowohl der Späti um die Ecke als auch Sportvereine, Kinderläden und Kiezkneipen.
Angekommen an der Markthalle Neun, geht es um Teuerung infolge der Aufwertung des Stadtteils. Die Markthalle, die eigentlich ein Ort für die Nachbarschaft sein sollte, ziehe stattdessen Tourist*innen und Leute mit viel Geld an, kritisiert ein Mitglied der Initiative »Kiezmarkthalle«. »Diejenigen, die man mit hohen Mieten nicht raustreiben kann, ekelt man raus, weil sie schlichtweg den Einkauf nicht mehr bezahlen können in der Gegend, in der sie wohnen.«
Nach zwei Stunden kommt der Umzug im »Kiezanker 36« an, einem Familien- und Nachbarschaftszentrum in der Nähe des Schlesischen Tors. Dort gibt es warme Suppe und Livemusik. Markus Poeppel ist mit seinem Sohn gekommen. »Ich wohne schon sehr lange hier«, erklärt er. »Alles wird teurer. Da muss man das bisschen Kiez, was es noch gibt, irgendwie unterstützen.«
Auch Anne Glieden und Nico Fettes sind mit ihren Kindern mitgelaufen. Die siebenjährige Marlina und die vierjährige Edda finden vor allem die großen Drachen toll. Anne Glieden, die früher einmal in der Gegend gewohnt hat, freut sich vor allem, mal wieder durch ihren alten Kiez zu laufen - auch wenn der mittlerweile ganz anders aussieht.
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