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Regieren mit Gedöns

Was Gleichstellung betrifft, fällt die Halbzeitbilanz der Großen Koalition mager aus, findet Simone Schmollack

  • Simone Schmollack
  • Lesedauer: 3 Min.

Hand aufs Herz: Könnten Sie sagen, woher folgende Sätze stammen? »Strukturelle Ungleichgewichte von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die zur Entgeltlücke wesentlich beitragen, wollen wir gezielt abbauen.« Oder: »Wir wollen die Teilhabe von Frauen im ländlichen Raum befördern und sie wirtschaftlich stärken.« Und dieser hier: »Wir lassen ältere Menschen bei der Digitalisierung nicht allein.«

Nein? Nicht mal eine Ahnung? Nicht schlimm, da sind Sie nicht allein. Fast niemand - außer vielleicht Menschen, die sich jeden Tag mit Politik beschäftigen - weiß, dass das Fragmente aus dem aktuellen Koalitionsvertrag sind. Das Zeug liest gewöhnlich kaum jemand. Die Sätze stehen relativ weit vorn in diesem 175-Seiten-Papier, in jenem Kapitel, das sich mit so was beschäftigt wie Familie, Senioren, Gleichstellung. Gedöns also, wie Gerhard Schröder sagen würde.

Nun erfreut sich Gedöns - abgesehen von diesen links-grün-versifften Kreisen - keiner allzu großen Beliebtheit. Auch die GroKo ist nicht unbedingt als Förderin der Gender-Sternchen bekannt. Aber eine Regierungsvereinbarung ohne Gedöns, das ist wie Komasaufen auf Spitzbergen: Kann man machen, bringt aber nix als Ärger, und am Ende bekommst du kalte Füße. Es ist im hohen Norden also immer besser, in homöopathischen Dosen zu saufen - oder nur so zu tun, als ob man säuft.

So in etwa hält es die GroKo auch mit dem Gedöns: Hier mal eine Idee gesetzt, dort ein bisschen Geld vergeben und ganz hinten noch ein Gesetz mit einem verschwiemelten Namen verabschiedet. Der Deutsche Frauenrat, Dachverband aller Frauenorganisationen und -verbände in der Republik, hat sich zur Halbzeitbilanz der Regierung die Mühe gemacht, Idee und Wirklichkeit miteinander abzugleichen, also den Koalitionsvertrag auf seine Arbeitsergebnisse hin geprüft.

Die Bilanz ist ernüchternd. Grundsätzlich habe sich die Koalition »zu wenig vorgenommen«, heißt es in der Frauenrats-Kritik. Und dort, wo sie sich etwas vorgenommen hatte, habe sie »zu wenig umgesetzt«. Als schwach angefangen und dann auch noch stark nachgelassen. Zwar gibt es jetzt 120 Millionen Euro mehr für die Prävention von häuslicher Gewalt und ein paar mehr Plätze in Frauenhäusern. Ebenso ein Gesetz, das sich Brückenteilzeit nennt: Teilzeitjobber*innen können jetzt leichter zur Vollzeit zurückkehren, als das früher der Fall war. Aber ansonsten: kein bundesweites Paritätswahlgesetz für die gleiche Teilhabe von Frauen in den Parlamenten (gibt es bislang nur in Brandenburg und Thüringen), keine Sanktionen für zu wenig Frauen in Führungspositionen, dafür weiterhin massenweise Minijobs, in denen mehrheitlich Frauen zu finden sind. Und das Ehegattensplitting, das die Einverdienerehe fördert und Frauen in männlicher Abhängigkeit verharren lässt, gibt es auch immer noch. Was für ein Gedöns!

Die GroKo sieht das natürlich ganz anders. Zwei Drittel der Vorhaben habe sie umgesetzt, lobt sie sich selbst. Die Kanzlerin empfindet die GroKo als »arbeitsfähig und arbeitswillig«.

Vielen Frauen in diesem Land muss der Satz der Kanzlerin in den Ohren dröhnen. Zum Beispiel jenen Alleinerziehenden und Älteren, die auf Teufel komm raus keinen Job kriegen. Die einen, weil sie möglicherweise zu viele Kinder haben; die anderen, weil sie möglicherweise zu viel Kompetenz besitzen. Oder jenen, die sich jeden Tag in der Pflege kaputtschuften und schon heute mit dem nächsten sinnlosen Reformgesetz rechnen dürfen: neue Vorschriften, die ihnen noch mehr Bürokratie, Kontrolle und Unfreiheit aufdrücken. Und auch all jenen Minijobberinnen, die trotz der neuen Grundrente weiter auf die Grundsicherung angewiesen sind. Sie alle sind überaus »arbeitsfähig und arbeitswillig«.

Neulich stand auf einem Aufsteller vor einer Bäckerei der Satz: »Kaffee redet nicht, Kaffee jammert nicht, Kaffee macht einfach seinen Job.« Kaffee muss Gedöns sein.

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