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Unregelmäßig wie das Wetter, wechselhaft wie Empfindungen
Jill Lepore erzählt 500 Jahre US-Geschichte mit dem Blick von unten und mittendrin
Ein blasses Foto in Schwarz-Weiß. Männer mit Hüten, vorn eine zweifelnd blickende Frau, hinten eine Ladenfront unterm Sternenbanner. So unspektakulär wie das Titelbild ist seine Beschreibung: Pittsburgh, Pennsylvania. November 1950, Menschenmenge am Tag des Waffenstillstands zum Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs. Darüber der Buchtitel »Diese Wahrheiten«.
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Jill Lepore: Diese Wahrheiten. Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. A. d. Engl. v. Werner Roller. C. H. Beck, 1120 S., geb., 39,95 €.
Einbände sind Reklamearbeiten. Sind sie gut, tendieren sie zu Kunst-Stücken. Sind sie schreiend, überdecken sie oft Dürftigkeit innen. Hier kündigt das sachliche Cover die Vorgehensweise der Autorin bei ihrer Erzählung von 500 Jahren US-amerikanischer Geschichte an - von Kolumbus bis zur Amtsübernahme Donald Trumps: keine Draufsicht aus der Perspektive der Macht, vielmehr der Versuch, Entwicklungen von unten zu erfassen.
Jill Lepore, 53, aus Massachusetts, Mutter dreier Söhne, Redakteurin beim »New Yorker« und Professorin für Geschichte in Harvard, versteht ihr Arbeitsfeld nicht nur als Fachgebiet, sondern auch als Methode. »Meine Methode ist, allgemein gesagt, die Toten für sich selbst sprechen zu lassen.« Ihr Buch, dies gleich zu Beginn, bietet hohen Genuss und seltenen Gewinn. Es versagt sich, was bei der Bewertung von US-Geschichte oft genug geschieht, jede Selbstherrlichkeit, verharrt aber auch nicht einäugig in bellend antiamerikanischer Empörung. Ein Geniestreich mit Aussicht auf Bestand.
Gleich die ersten Sätze schlagen die Melodie des - auf die politische Entwicklung konzentrierten - Werks an. »Der Lauf der Geschichte ist nicht vorhersehbar, er ist so unregelmäßig wie das Wetter, so wechselhaft wie Empfindungen. Nationen erstarken und fallen durch Laune und Zufall, heimgesucht von Gewalt, korrumpiert von Gier, erobert von Tyrannen, überfallen von Schurken, verwirrt von Demagogen.« Das mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 begonnene Experiment, erinnert Lepore, beruhe auf drei Ideen, die Thomas Jefferson, einer der Gründerväter und dritter Präsident, »diese Wahrheiten« nannte: politische Gleichheit, naturgegebene Rechte und Volkssouveränität.
In der Verfassung, die Jefferson maßgeblich schrieb und die 1787 angenommen wurde, finden sie sich wieder. Er hatte diese Wahrheiten »heilig und unbestreitbar«, Benjamin Franklin hatte sie »selbstverständlich« genannt. Doch die wahre Kontroverse bestand nicht zwischen den Autoren der Verfassung, sie besteht zwischen den Wahrheiten als Anspruch und dem Gang der amerikanischen Wirklichkeit.
Es ist die nüchterne Betrachtung Lepores, die ihre Geschichte nicht zu der verbreiteten Selbstdarstellung der USA als gottgefälliger Leitstern für die Welt führt, sondern sie eine weithin alternative Geschichte erzählen lässt. Im Buch an keinem Punkt sichtbarer als beim bis heute rumorenden Rassismus, Amerikas Erbsünde. Seinen Beginn datiert die Historikerin lange vor Gründung der USA. Wir Amerikaner, hält sie fest, stammen von Eroberern und Eroberten ab, von Menschen, die als Sklaven gehalten wurden, und von Menschen, die Sklaven hielten. Von der Union und von den sich abspaltenden Südstaaten. Von Protestanten und Juden, von Muslimen und Katholiken, von Einwanderern und von Menschen, die dafür kämpften, die Einwanderung zu beenden.
Auch die »American Revolution« begann für Lepore nicht erst mit den englischen Kolonisten, sondern mit den Menschen, über die sie herrschten - mit Indianern, die Krieg führten, und schwarzen Sklaven, die rebellierten. »Ihre Revolutionen kamen in Wellen und suchten das Land heim. Sie stellten unablässig die immer gleiche Frage: Mit welchem Recht werden wir beherrscht?«
Egal, um welche Ereignisse es ging, Rassismus fehlte fast nie. Etwa im Mai 1787, als in Philadelphia der Verfassungskonvent beginnt. Mit dabei George Washington, 55, der erste Präsident der USA. »Seine Schönheit wurde nur vom schlimmen Zustand seiner Zähne beeinträchtigt, die verfault und durch Prothesen ersetzt worden waren, die man aus Elfenbein und aus neun Zähnen hergestellt hatte, die seinen Sklaven gezogen worden waren.« Die Arbeit an der Verfassung ist vom Streit um die Sklaverei geprägt. Gouverneur Morris mahnt die Delegierten, sie seien zusammengekommen, um eine Republik aufzubauen, es gebe aber nichts Aristokratischeres als die Sklaverei, diesen Bannfluch des Himmels.
Die Verfassung hob den Fluch nicht auf. Sklave oder Sklaverei tauchen im Schlussdokument nirgends auf. Das ändert sich erst mit dem 13. Zusatzartikel zur Verfassung, Ende 1865, nach dem Bürgerkrieg. Doch auch der Civil War löst nur die Pest der Sklaverei durch die Cholera der Apartheid ab. Die Jim-Crow-Gesetze verfügen Rassentrennung an jedem wahrnehmbaren öffentlichen Ort bis hin zur letzten Straßenecke. Die Autorin: »Tennessee verabschiedete 1881 das erste Jim-Crow-Gesetz, das die Trennung von Schwarzen und Weißen in Eisenbahnwaggons anordnete. Georgia war 1891 der erste Staat, der getrennte Sitzbereiche für Weiße und Schwarze in Straßenbahnwagen verlangte. In Gerichten lagen getrennte Bibeln bereit …«
Präsident Woodrow Wilson (1913-1921) wird bis heute als Begründer des Völkerbunds geehrt. 1913, zum 50. Jahrestag der Bürgerkriegsschlacht von Gettysburg, »vergisst« auch er, das Thema Sklaverei zu erwähnen. Wie alle vor ihm, merkt Lepore an, billigte selbst der Moral-Demokrat Wilson die Rassentrennung. Eine Woche nach dem Auftritt habe seine Regierung getrennte Toiletten für schwarze und weiße Mitarbeiter des Finanzministeriums angeordnet, bald darauf die Rassentrennung für den gesamten öffentlichen Dienst verfügt und so die Diskriminierungsgesetze in die Hauptstadt der Nation geholt.
Zum großen Franklin D. Roosevelt, Präsident des New Deal und Mann, der die USA in den antifaschistischen Weltkrieg führte, macht Lepore gleichfalls Ergänzungen, die selten zu lesen sind. Für die Rettung der Demokratie im eigenen Land, schreibt sie, hätte der zu Recht gewürdigte Präsident die Apartheid-Gesetze abschaffen müssen. Das tat Roosevelt nicht. Ebenso ging der vom Krieg befeuerte US-Wirtschaftsboom an den Afroamerikanern vorbei, und die schwarzen Kriegsteilnehmer blieben nach Kriegsende von den Vergünstigungen für Veteranen zum Collegebesuch oder beim Haus- und Wohnungskauf ausgeschlossen.
Jill Lepore holt auch die Nichtbeachtung von Frauen, Sexualität und Ehestand durch die Verfassungsväter aus der Vergessenheit und verdeutlicht das wieder an einprägsamen Beispielen. Sie beleuchtet vernachlässigte Seiten des McCarthyismus, des Watergate-Skandals oder der Zäsur Nine-Eleven, bevor sie mit Trumps Wahl ein Fazit zieht, das vielleicht auch einmal zu »diesen Wahrheiten« gezählt werden wird: »In der Zeit zwischen den Anschlägen vom 11. September 2001 und der Wahl von Donald Trump 15 Jahre später, am 8. November 2016, verloren die Vereinigten Staaten in einer Rauchwolke die Orientierung. Das Parteiensystem ging zu Bruch, die Presse zerfiel, und alle drei Gewalten des Regierungssystems implodierten. Es gab die reale Furcht, dass der politische Prozess in Amerika von den Russen gesteuert wurde, so als hätte die Sowjetunion den Kalten Krieg letztlich doch irgendwie gewonnen.« Das ist nicht die einzige Passage, bei der einem Amerikas oft großartige Geschichte zugleich wie eine böse Geschichte anmutet.
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