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Einsturz der »Roten Mauer«
Warum Labour die britischen Wahlen verloren hat.
Wenn die britischen Tories gegenüber der Wahl von 2017 mit einem Stimmenzuwachs von nicht einmal anderthalb Prozent Dutzende Parlamentssitze hinzugewinnen, ist das erstens ein frappierendes Ergebnis des britischen Mehrheitswahlrechtes. Es ist zweitens aber auch ein symbolischer Sieg »der Alten gegen die Jungen, der Rassisten gegen farbige Menschen, der Eigensucht gegen die Belange des Planeten«, wie der prominente linke Journalist Paul Mason in der Wahlnacht verzweifelt twitterte: »Schottland wird das Vereinigte Königreich verlassen. Das fühlt sich nicht richtig an, im Vergleich zu dem, was wirklich ist«.
Mason hat ganz Recht. Und doch sind die Gründe für das überraschend schlechte Abschneiden von Labour komplexer. Wir haben es nicht nur mit einer Entscheidung zu vieler Menschen für die wohl schlechtere Zukunftsoption zu tun. Das Ergebnis zeigt auch, dass die Menschen in vielen Regionen die politische Situation, die wachsende Ungleichheit und die möglichen Gegenmittel ganz anders wahrnehmen, als das linke bis linksliberale Milieu glaubte. Es ist ja keineswegs nur eine wohlsituierte Elite, die um jeden Preis den Brexit wollte.
Die Zeitung »Guardian«, die anders als weite Teile der für Boris Johnson trommelnden Presse für Corbyn eintrat, sieht fünf Gründe für das Desaster: Erstens war Corbyn persönlich in allen Umfragen unpopulär. Zweitens sei sein Wahlmanifest zu ausführlich gewesen und habe teils übertriebene Angebote gemacht - so sei etwa das versprochene kostenfreie Breitbandinternet für alle im Haustürwahlkampf eher als übertriebenes Wahlgeschenk denn als nötige Maßnahme wahrgenommen worden.
Drittens natürlich die Brexit-Strategie: Selbst wenn Corbyns Schattenkabinett sich diesbezüglich einig gewesen wäre, sei der Kompromissvorschlag eines zweiten Referendums nicht vermittelbar gewesen. Die 17,4 Millionen, die für den EU-Austritt gestimmt hatten, hätten sich nicht ernst genommen gefühlt, zitiert das Blatt den Labour-Chairman Ian Lavery. Viertens brach die »Rote Wand« zusammen - in den ehemaligen Kohle-, Stahl- und Industriestandorten gelang es nicht, die klassischen Labour-Milieus zu erreichen. Zudem habe sich die innerparteiliche Spannung auf den Wahlkampf ausgewirkt: So hätten sich die Corbyn-Unterstützer der Strömung »Momentum« zu sehr auf Kandidatinnen aus ihren eigenen Reihen konzentriert.
Jene Antisemitismusvorwürfe, die Labour bis zum letzten Moment begleitet haben, haben laut Guardian nicht den Ausschlag gegeben. Dennoch wird sich eine wie auch immer neu zusammengesetzte Parteiführung sich dieses Themas offensiver annehmen müssen. Hinzufügen muss man wohl, dass die Strategie, statt der EU-Austrittsfrage die Erneuerung des staatlichen Gesundheitssystems (NHS) in den Mittelpunkt zu stellen, nicht funktioniert hat.
Dass Boris Johnson, dessen Tories weit weniger detaillierte, aber dafür sehr klar klingende Vorschläge gemacht hatten, so klar gewonnen haben, zeigt vor allem, dass der Brexit das absolut dominante Thema war. Prominente Labour-Abgeordnete wie das Schattenkabinettsmitglied Jon Trickett oder Lisa Nandy - die mit Hemsworth and Wigham zwei Wahlkreise repräsentieren, die 2016 mehrheitlich für »Leave« gestimmt hatten - konnten ihre Sitze zwar mit Verlusten verteidigen. Doch scheinen sich nun die Warnungen zu bewahrheiten, die sie schon länger in innerparteilichen Debatten vorgebracht hatten. In ihrer Siegesrede ermahnte Nandy ihre Partei erneut, sich nicht weiter von den Menschen im kleinstädtischen Arbeitermilieu zu entfernen: »Jede Person, die sich davor fürchtet, was die Tory-Regierung für sie bedeuten wird, die ihr Kreuz bei Labour machen möchte, der sage ich, dass ich Euch gehört habe. Ich werde Labour zu Euch nach Hause zurückbringen«, zitiert sie die Lokalpresse.
Schon im benachbarten Leigh kam es zum Umsturz. Seit 1922 war der Wahlkreis in Händen von Labour gewesen, doch nun gewann der Tory James Grundy gegen den Labour-Abgeordneten Jo Platt. Ähnlich lief es in 41 weiteren Wahlkreisen - fast überall wird der Brexit neben der Popularität der jeweils Antretenden ausschlaggebend gewesen sein.
Die Frage nach dem EU-Austritt war für Labour ein fast unentrinnbares Dilemma. Eine klare Entscheidung für oder gegen die EU hätte jeweils einen bedeutenden Teil des Stimmenpotenzials verprellt - und die unklare Position zum wichtigsten Thema überhaupt war auch nicht mobilisierend. Immerhin scheint der Kompromiss, ein zweites Referendum zu versprechen, in den eher pro-europäischen urbanen Zentren aufgegangen zu sein. Die dort mit Labour konkurrierenden Liberaldemokraten konnten mit ihrer radikalen Anti-Brexit-Haltung jedenfalls kaum punkten. Sie gewannen gegenüber 2017 zwar vier Prozent an Stimmen hinzu, verloren im Vergleich zum letzten Urnengang aber einen Sitz - und im Vergleich zur Zusammensetzung des von zahlreichen Übertritten durcheinandergewirbelten Unterhauses bis zum Wahltermin sogar mehrere. Auch die Parteichefin Jo Swinson konnte ihren Wahlkreis nicht gewinnen und musste den Vorsitz abgeben.
Während Johnson, der seine Partei in den letzten Wochen empfindlich »gesäubert« hat, vorläufig so fest im Sattel sitzt wie schon länger kein Vorsitzender der Konservativen, ist es unklar, wie sich das Gleichgewicht bei Labour nach der Niederlage entwickeln wird. Corbyn hatte zuletzt im September beim Parteitag in Brighton demonstriert, dass er die unterschiedlichen Flügel der Partei trotz seiner recht exponierten Stellung als Parteilinker immer wieder vereinen konnte. Doch zeigte der Parteitag auch, wie gespalten die Partei besonders hinsichtlich des Brexit war und ist. Wie sich die Konfliktlinien in den nächsten Jahren jenseits dieses Themas entwickeln - falls Johnson beim EU-Austritt tatsächlich so schnell Fakten schafft, wie er verspricht -, scheint heute offen. Für die Tories hat Johnson gezeigt, wie schnell in aufgeregten Zeiten entschlossene Minderheiten große Parteien übernehmen können.
Nach der Statistik der Vereinten Nationen ist das Armutsrisiko im Vereinigten Königreich im Vergleich zu anderen Industriestaaten hoch. Warum so viele Leute glaubten, ein harter Brexit und ein enger Schulterschluss mit Donald Trumps USA würden diese Lage am ehesten verbessern, bleibt eine offene Frage. Ein Teil der so banalen wie gefährlichen Antwort ist wohl, dass Menschen in einer verunsicherten Lage auf der Suche nach einer vermeintlich starken, männlichen Führungsfigur sind. Während des Parteitags in Brighton in September erklärte mir ein Taxifahrer, er werde bei den Neuwahlen für Johnson stimmen, weil dieser »der stärkste Mann von allen« sei.
Dieser Chauffeur aber, und widerspricht Paul Masons zitiertem Wahlfazit dann doch, war farbig und stammte aus Eritrea.
Johanna Bussemer leitet das Büro London und das Europareferat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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