- Berlin
- Übernachtcafé
Ein warmer Ort für kalte Nächte
Statt Kältebahnhöfen gibt es für Obdachlose in diesem Winter ein neues Angebot. Ein Besuch im Übernachtcafé
Ächzend lässt Jan seinen riesigen Rucksack von den schmalen Schultern fallen, dann fällt er selbst auf einen Stuhl. Drei Nächte ist er schon wach. Jan, der wie alle hier seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, wischt sich die strähnigen, dunklen Haare aus dem Gesicht und beugt sich über den dampfenden Teller mit Wirsingkohl. Er trägt einen schwarzen Jogginganzug mit drei goldenen Streifen, darunter ein schwarzes Hemd. Jan sieht aus wie ein Filmschauspieler, der ein bisschen zu viel gefeiert hat. Nur seine Finger verraten, dass er seit 15 Monaten auf der Straße lebt. Wie es dazu kam, sei eine zu lange Geschichte, sagt Jan. Nur so viel verrät er: Seit drei Jahren sucht er die Liebe, die er verloren hat. »Ich bin Krebs«, sagt er. »Zu viele Gefühle.«
Seit das Übernachtcafé für obdachlose und schutzbedürftige Menschen im November eröffnet hat, kommt Jan so oft es geht in die Gitschiner Straße 15. In dem Kreuzberger Sozialzentrum gibt es einen großen Raum mit Theke, an der Wand hängen Zeichnungen. Ab zweiundzwanzig Uhr füllt sich das Café mit Menschen, es riecht nach Kaffee und Lebkuchen, die Fensterfront zum Hof beschlägt. Es ist hier gut für die Seele, sagt Jan. Hier sagen die Leute Bitte und Danke, das findet er wichtig. Man kann sich unterhalten, warm duschen und oben im Ruheraum pennen.
»Unser Haus hält warm, satt und sauber«, sagt Peter Storck. Er ist Pfarrer in der Kreuzberger Gemeinde Heilig Kreuz-Passion, die das soziale Zentrum aufgebaut hat. In dem alten Fabrikgebäude gibt es seit den neunziger Jahren einen Tages-Treffpunkt für obdachlose und arme Erwachsene, nun kommt noch das Übernachtcafé des Trägers Karuna, hinzu. Hier sollen die Menschen aufgefangen werden, die in den vergangenen Jahren noch in den Kältebahnhöfen untergekommen waren.
Die BVG hatte im Herbst angekündigt, die U-Bahnhöfe Moritzplatz und Lichtenberg in diesem Winter geschlossen zu halten. »Die Bahnhöfe sind keine menschenwürdige Umgebung. Es gibt keine Toiletten, auf den Gleisen haben wir Starkstrom, und unser Sicherheitspersonal kann keine Sozialarbeiter ersetzen«, begründet Kathrin Bierwirth, Sprecherin der BVG, die Entscheidung. Für Pfarrer Storck war dies erst einmal ärgerlich. »Wir können das allein nicht stemmen«, sagt er. Erst in den kalten Nächten werde sich zeigen, wie groß die Nachfrage tatsächlich ist.
»Auch wir wissen nicht, wie viele Obdachlose in Berlin leben«, sagt Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE). Schätzungen zufolge sind es 6000 bis 10 000 Menschen. Mehr Erkenntnisse erhofft sich Breitenbach von der »Nacht der Solidarität«, bei der vom 29. auf den 30. Januar Freiwillige die Obdachlosen zählen und befragen sollen. Mehr als 3700 Berliner haben sich dafür bereits angemeldet. »Wir wollen zum Beispiel wissen, welche Sprachen sie sprechen und wie viele Frauen unter ihnen sind«, sagt Breitenbach. So könne man das Angebot besser auf die Bedürfnisse der Menschen abstimmen.
Derzeit gibt es laut der Sozialsenatorin 1200 Übernachtungsplätze in der Kältehilfe, die Betten seien aber nicht komplett belegt. Dafür gibt es viele Gründe. Die Menschen dürfen zum Beispiel keine Tiere in die Wohnheime mitnehmen, auch werden ihre Taschen auf Alkohol kontrolliert. Für Suchtkranke ist das bereits eine große Hürde. Andere können beengte Räume nicht ertragen oder fühlen sich von den strikten Hausordnungen bevormundet.
Im Übernachtcafé ist das anders. Jeder darf kommen und gehen wann er möchte, seinen Hund und seine Taschen mitnehmen, ohne Kontrollen fürchten zu müssen. Das ist für Markus, der sich neben Jan gesetzt hat, besonders wichtig. Markus hat ein Bier im Rucksack - für den Notfall, falls das Zittern wieder anfängt, wie er sagt. »Ich will ja keene Fahne im Café haben.« Markus’ Gesicht ist an vielen Stellen zusammengenäht, unter seinen kurzen Ärmeln ranken sich Brandnarben. Er hört gerne zu, was die Leute im Café so zu erzählen haben. »Wat«, sagt er immer, wenn ihn etwas erstaunt. Und er sagt oft Wat. Markus hat viel verpasst. Seine Strafakte war 20 Zentimeter dick, als er 1999 in den Knast kam. Nach 15 Jahren setzten sie ihn vors Tor und er landete auf der Straße. »Endlich frei, aber keen Plan vom Leben«, sagt er rückblickend. Heute sei das anders. »Ich habe vier Jobs«, sagt Markus. »Zeitung verkaufen, Schnorren, bei Karuna helfen und Barschicht im Nachtcafé.«
»Es geht uns nicht nur um Zahlen, sondern auch um die qualitative Seite der Obdachlosenhilfe«, sagt Jörg Richter, Geschäftsführer der Sozialgenossenschaft Karuna. »Viele Menschen sind einsam und brauchen ein Gespräch« Im Übernachtcafé arbeiten mindestens zwei Sozialarbeiter, in dieser Nacht kennen sie die meisten Gäste mit Namen. Als ein Mann mit türkisen Haaren hereinkommt, wird eine Schüssel mit Futter für seine Hündin vorbereitet.
Der Mann heißt Kalle. Er trägt eine schwarze Weste mit St. Pauli Aufnähern und hat einen Laptop mit Fotos von sich und seiner Ex dabei. »Da war ich noch glücklich«, sagt er. Auf den Bildern ist es warm, Kalle steht in kurzen Hosen auf einem Balkon. »Sommer ist geil«, sagt Kalle. Im Sommer kann man sich einen Bierkasten zusammenschnorren und dann am 1. Mai für das doppelte an Touris verkaufen, erzählt er. Man kann in verlassenen Häusern am Stadtrand pennen und sich auf Festivals einschleichen. Dort merkt niemand, dass man obdachlos ist.
Aber jetzt ist Dezember, den ganzen scheiß Winter müsse man noch durchhalten. Bis wieder Sommer ist. Dann will Kalle nach Paris, genauer gesagt unter Paris, erzählt er grinsend. In den Katakomben leben, das 320 Kilometer lange Tunnelsystem der Stadt, wo wilde Typen rumlaufen und man Menschenknochen finden kann. Berlin langweilt Kalle. Er muss noch seine Schulden bezahlen, dann geht es für ihn und seine Hündin in den Untergrund, wo ihn niemand mehr nerven kann.
Derweil hat ein Sozialarbeiter den Beamer aufgebaut. In der Werbung vor dem Film säuselt eine Frau Frohe Weihnachten. Jan hat gehört, an Heiligabend soll es eine Demo für Obdachlose geben. »Ist auch echt wichtig«, sagt er. So viele Dinge laufen schief, diesen Winter. Markus hat am ersten Feiertag Barschicht. Kalle ist Weihnachten egal. Ein Sozialarbeiter bringt noch einen Teller mit Lebkuchen. Jan, Markus und Kalle warten, dass der Winter vorbeigeht.
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