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»Immer wieder eingefangen«
Viele Menschen, die Stefanie Hofstetter auf der »Ocean Viking« versorgte, haben mehrere Fluchtversuche hinter sich
Sie leiteten bis vor Kurzem die medizinische Station auf dem Seenotrettungsschiff »Ocean Viking«. In welchen Fällen brauchen die Geretteten am häufigsten Hilfe?
Am häufigsten sind Hautinfektionen oder grippale Infekte. Die Hautinfektionen kommen häufig davon, dass die Menschen lange Zeit nicht die Möglichkeit hatten, sich ausreichend zu waschen. Am zweithäufigsten behandeln wir Narben, manchmal sind es frische, oft aber auch ältere Narben. Wir fragen immer, wie sie entstanden sind. Die Menschen berichten uns, dass diese von Gewalteinwirkung auf ihrer Flucht kommen.
Etwa von Folter in Lagern Libyens?
Genau. Sie erzählen, dass sie in Libyen geschlagen oder misshandelt wurden.
Wie glaubhaft ist das für Sie?
Ich halte das für glaubwürdig. Gerade wenn man Verbrennungsnarben sieht an Körperstellen, wo man sich nicht beim Kochen oder mit heißem Wasser verbrennen kann. Männer haben oft auf dem Rücken oder den Schultern Verbrennungsnarben. Das sieht aus, wie wenn jemand einen Zigarettenstummel auf der Haut ausdrückt. Punktuelle Narben, alle ungefähr gleich groß. Und dann berichten Flüchtlinge, dass es etwa geschmolzenes Plastik war, das sie auf die Haut tropfen.
Wer sind »sie«, die heißes Plastik auf die Haut von Geflüchteten tropfen?
Wir hören sehr oft, dass Flüchtlinge, in einem Internierungslager Geld an die Wärter oder an Lagerbetreiber zahlen sollen, um freizukommen. Normalerweise haben sie kein Geld. Dann müssen Flüchtlinge die Familie anrufen und ihr sagen, dass diese zahlen soll. Um mehr Druck zu machen, wenden die Erpresser während der Anrufe Gewalt an, sodass die Verwandten Schmerzensschreie hören.
Dann haben Sie auch viel mit Traumata zu tun?
Ja, viele sind traumatisiert, haben seelische Wunden. Es ist für uns schwierig, in kurzer Zeit oder überhaupt an die Menschen heranzukommen. Weil sie vieles noch nicht verarbeitet haben oder sich dessen nicht bewusst sind. Oder Angst haben, was mit ihnen passiert. Sie hoffen, dass wir mit ihnen nach Europa fahren. Wir sagen ihnen, dass sie in Sicherheit sind.
Was erzählen Ihnen die Leute, warum sie nach Europa wollen?
Primär verlassen sie Libyen, weil sie aus dieser Gewaltspirale rauskommen wollen. Weil die Zustände dort für die Menschen so verheerend sind, dass sie lieber das Risiko in Kauf nehmen, auf einem Boot zu kentern oder zu ertrinken, als dort zu bleiben.
Seit April hat sich durch die Kämpfe um die libysche Hauptstadt Tripolis die Lage für Migrant*innen noch einmal verschärft. Hat sich im Zuge dessen Ihre Arbeit auf dem Schiff verändert?
Meinen Kollegen und mir fiel stark auf, dass uns jetzt viel mehr Menschen berichten, dass sie nicht nur einmal versucht haben, mit einem Boot aus Libyen wegzukommen, sondern drei- oder viermal. Sie wurden immer wieder von der Küstenwache eingefangen und zurückgebracht.
Sie mussten mehr Fluchtversuche unternehmen als in den Vorjahren?
Ja, im Vergleich zu 2018 oder auch zu 2015. Das ist logisch, weil ein Jahr lang kaum Rettungsschiffe im Einsatz waren und die libysche Küstenwache viel aktiver geworden ist. Sie hat mehr Schiffe, sie ist besser ausgestattet. Gleichzeitig ist die Anzahl der Menschen, die weg wollen, nicht kleiner geworden.
Hat sich dieses Jahr noch etwas verändert?
Wir hören mittlerweile oft von Menschen, dass sie sehr lange, drei oder vier Jahre, in Libyen waren. Das berichten auch viele Minderjährige. Wenn mir ein 17-Jähriger erzählt, er war dreieinhalb Jahre in Libyen, dann war er 13 oder 14 Jahre alt, als er dort ankam. Dann denke ich mir, wow, was machen die Jugendlichen hier in meiner Umgebung mit 13 oder 14 Jahren? Das ist schon krass. Es ist keine Lösung, die Menschen nach Libyen zurückzubringen.
Was sollte stattdessen mit ihnen passieren?
Wir als Europäer müssen eine gemeinschaftliche Lösung finden. Das ist eigentlich das Schlimme, dass die Menschen nicht verstehen, warum Flüchtlinge aus Libyen weg wollen. Aber ich bin da optimistisch. Man spürt in der Politik ein wenig, dass versucht wird, eine Lösung zu finden. Ich hoffe, dass die Themen Flucht und Seenotrettung in den Medien präsent bleiben. Und die Europäische Union mit unserem Schiff kooperiert. Dass sie sagen, wir suchen euch einen Hafen aus und ihr könnt dort hinfahren.
Die Einsätze sind auch für Helfer*innen mental belastend. Haben Sie professionelle psychologische Unterstützung?
Ja. Die Psychologen kennen die Situation auf den Schiffen schon lange. Die waren auch mal dabei und wissen, was da los ist. Sie sind telefonisch oder per E-Mail erreichbar. Und sie kommen aufs Schiff, wenn wir im Hafen sind und bieten Einzel- und Gruppengespräche an. Meine Aufgabe ist auch, sicherzustellen, dass jeder das Angebot wahrnimmt und verstanden hat, warum das wichtig ist.
Sie waren letztes Jahr auf der »Aquarius« engagiert, dem vorherigen Schiff von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen, das von italienischen Behörden festgesetzt wurde. Haben Sie die Kriminalisierung ziviler Seenotrettung selbst erfahren?
Man wird oft mit Vorwürfen konfrontiert wie: »Ihr helft doch den Schleusern« oder »ihr bringt doch die Leute nach Europa«. Im September hatten wir auf der »Ocean Viking« einmal Angst, dass uns das Schiff weggenommen wird. Wir brachten Leute nach Lampedusa und bekamen die Anweisung, nicht in den Hafen zu fahren, sondern draußen zu ankern. Die Behörden holten die Menschen von unserem Schiff ab und am nächsten Tag kamen Schiffsinspektoren. Sie schauten sich den ganzen Tag Papiere an und überprüften, ob alle Inspektionen in den letzten Jahren durchgeführt wurden. Solch eine Kontrolle kann aber jedem Schiff überall passieren.
Sie waren bei drei Missionen auf dem Mittelmeer dabei. Vorher haben Sie für »Ärzte ohne Grenzen« in Kongo, Südsudan und Afghanistan gearbeitet. Was hat Sie angetrieben, jetzt zivile Seenotrettung zu machen?
Ich wollte diese Missionen begleiten, weil ich mir dessen bewusst bin, wie es in den Ländern ist, aus denen diese Menschen kommen. Und ich verstehe, warum sie aus diesen Ländern weggehen. Sie sind dort mit Gewalt konfrontiert, dort herrscht Krieg. Oder sie fliehen aus Armut oder weil sie sich ein besseres Leben wünschen. Und ich verstehe, was in Libyen passiert. Das ist direkt vor unserer Haustür. Wir Europäer tragen dafür Verantwortung, wir müssen reagieren.
Würden Sie es nochmal machen?
Ja, auf jeden Fall.
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